Toedliche Wut
schweigend an. Plötzlich schwingt die Tür auf, und vor uns steht ein babygesichtiger junger Mann mit braunen Haaren und braunen Augen. Er trägt ein Metallica-T-Shirt, ausgewaschene Jeans und schmutzige weiße Socken. Seine Haare stehen an einer Seite vom Kopf ab, so als hätte er gerade geschlafen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Seine Stimme verrät, dass er als Amischer aufgewachsen ist, denn er hat diesen bestimmten Akzent, den ich sofort wiedererkenne.
»Gideon Stoltzfus?« Tomasetti hält ihm seinen Dienstausweis hin.
»Ja.« Er sieht sich den Ausweis genau an. »Worum geht es?«
»Wir arbeiten gerade an einem Fall und würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen«, sage ich. »Können wir hereinkommen?«
»Hm … okay.« Er öffnet vorsichtig die Tür, als rechne er damit, dass wir ihn anspringen und zu Boden werfen.
Wir folgen ihm in eine kleine Küche, in der es nach angebranntem Popcorn riecht. Sie ist gemütlich und relativ sauber, aber unübersehbar die eines Junggesellen: Kiefernschränke mit auffälliger Maserung entlang heller, blaugrüner Wände, Arbeitsplatten aus Granitimitat. Auf einem schmutzigen Läufer vor der Spüle liegt ein fetter Dackel, der wohl auch taub ist, denn er hat nicht gebellt, als wir eingetreten sind. Mein Blick fällt auf eine Hightech-Kaffeemaschine mit integrierter Kaffeemühle und einem Timer. Auf dem Unterschrank steht eine kleine Mikrowelle mit offener Tür, an der Wand hängt billige Kunst, und irgendwo im Haus spielt Countrymusik. Dazu kläfft lautstark ein zweiter Hund, der offensichtlich nicht besuchertauglich ist.
Stoltzfus lehnt an einen Unterschrank und schiebt die Hände in die Hosentaschen. »Wollen Sie einen Kaffee oder so?« Er zeigt auf einen kleinen Tisch, an dem kaum drei Leute Platz haben.
»Nein, danke.« Tomasettis Lächeln wirkt gezwungen.
Stoltzfus ist ein zurückhaltender, ruhiger Mann. Er fragt sich, warum wir hier sind. Sein Blick wandert von Tomasetti zu mir, und plötzlich wird er nervös. Und jetzt frage ich mich, warum das so ist.
Tomasetti lässt ihn kurz zappeln, bevor er ihm die erste Frage stellt. »Ich habe gehört, dass Sie ein Netzwerk aufgebaut haben, so eine Art ›Underground Railroad‹ für junge Leute, die ihre amische Gemeinde verlassen wollen.«
»Underground Railroad?« Stoltzfus lacht, aber es klingt gewollt, angespannt.
Tomasettis Blick wird stechend. »Was ist daran so lustig?«
Stoltzfus’ Adamsapfel schnellt auf und ab. »Ich hab noch nie gehört, dass jemand es so genannt hat. Klingt irgendwie dramatisch.«
»Dann klären Sie uns doch einfach auf und erzählen Sie uns, was Sie tun«, sage ich.
Wieder huscht sein Blick von Tomasetti zu mir. »Stecke ich in irgendwelchen Schwierigkeiten?«
»Wir wollen einfach nur wissen, worin Ihre Arbeit besteht.« Ich schenke ihm ein argloses Lächeln. »Dazu könnten Sie als Erstes erzählen, wie Sie die jungen Leute finden, die Hilfe brauchen.«
Meine Worte scheinen ihn zu beschwichtigen, und er beruhigt sich. »Im Wesentlichen durch Mundpropaganda. Buck Creek ist eine kleine Stadt. Leute reden, und das ist bei den Amischen nicht anders. Gewöhnlich kriege ich es mit, wenn ein Teenager weggehen will.«
»Und wie nehmen Sie Kontakt zu ihm auf?«
»Normalerweise kontaktieren sie mich.«
»Sie waren auch mal amisch?«, frage ich.
Er senkt den Kopf, und ob ihm das bewusst ist oder nicht, merke ich doch, dass er noch immer Probleme damit hat. »Ich bin vor zehn Jahren weggegangen.«
»Darf ich fragen, warum Sie die Gemeinschaft verlassen haben?«, frage ich.
»Ich hatte Probleme mit all den Regeln und Vorschriften. Ohne Strom und Auto zu leben war schon schlimm genug, aber dann durfte ich nicht mal aufs College gehen.« Er zuckt die Schultern. »Ich wollte kein Farmer werden, so hatte ich mir meine Zukunft nicht vorgestellt.«
»Bedauern Sie das heute?«
Er sieht mir fest in die Augen. »Ich vermisse meine Familie. Ich habe vier jüngere Schwestern. Sie haben mich bewundert.« Sein Lachen ist voller Selbstironie. »Wissen Sie, ich fahre manchmal am Haus vorbei, echt erbärmlich, oder?«
Trotz meines Vorsatzes, neutral zu bleiben, ertappe ich mich dabei, ihn zu mögen. »Sehen Sie Ihre Geschwister manchmal?«
Sein Blick wandert zu den Füßen. »Die Eltern erlauben es nicht. Vermutlich fürchten sie, ich würde einen schlechten Einfluss auf sie ausüben.«
Ich nicke, verstehe ihn besser, als er ahnt. »Was passiert, wenn ein Jugendlicher Kontakt zu Ihnen aufgenommen
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