Toedliche Wut
»Versprochen.«
Sie legt auf. Ich nehme mir Zeit, das Telefon zurück in den Gürtelclip zu schieben, dann berichte ich Tomasetti von dem Gespräch. »Sie hat es nie ihrem Mann erzählt.«
»Für mich klingt das so, als hätten beide Mädchen – Bonnie Fisher und Annie King – sich ziemlich weit von den amischen Regeln entfernt«, bemerkt er.
Ich nicke zustimmend, denke dabei an das dritte Mädchen, deren Eltern bei einem Buggy-Unfall gestorben sind. »Es wäre sicher hilfreich gewesen, mit Leah Stuckeys Eltern zu reden, ob sie vielleicht auch Probleme hatte.«
»Dann könnten wir eher sagen, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Verhalten und dem Verschwinden der drei Mädchen gibt.«
»Aber selbst wenn wir beide wissen, dass ein bestimmtes Verhalten gefährlich sein kann, verbindet das die Fälle wirklich miteinander?«, frage ich.
»Wir haben zu viele Spuren, die nirgendwo hinführen«, erwidert Tomasetti.
Als die Kellnerin mit unseren Burgern kommt, unterbrechen wir das Gespräch. Was auf unseren Tellern liegt, sieht gut aus und riecht noch besser, und wir machen uns gierig darüber her.
»Okay, legen wir mal alles auf den Tisch, was wir haben«, sagt er.
Ich fange an. »Es könnte einen religiösen Hintergrund geben.«
»Die Kirche der zwölf Wege«, sagt er. »Laut Goddard mögen sie die Amischen nicht.«
»Das passt: Annie King hatte einen englischen Liebhaber, Bonnie Fisher war schwanger, hatte mehrere Liebhaber und wollte anscheinend abtreiben lassen.«
»Was jeden religiösen Fanatiker, der was auf sich hält, stinksauer machen dürfte«, kommentiert Tomasetti trocken.
»Somit bleiben alle, die etwas mit der Kirche der zwölf Wege zu tun haben, auf der Liste der Verdächtigen.«
Noch einmal lasse ich alles, was wir über den Fall wissen, in Gedanken Revue passieren. Nach ein paar Minuten ziehe ich eine letzte Pommes durch den Ketchup, und Tomasetti leert seine Flasche Killian’s.
»Glaubst du, dass Noah Masts Verschwinden etwas damit zu tun hat?«, fragt Tomasetti schließlich.
»Keine Ahnung«, sage ich ehrlich. »Laut Stoltzfus hat er vom Weggehen gesprochen.« Ich muss an das Gedeck für ihn auf dem Küchentisch der Masts denken. »Checkst du auch die nicht aufgeklärten Vermisstenfälle, die schon ad acta gelegt sind?«
Er nickt. »Wenn es noch andere ähnliche Fälle gibt, wird VICAP sie ausspucken.«
»Nur wenn sie gemeldet wurden.«
Er sieht mich ungläubig an. »Glaubst du wirklich, dass manche amische Eltern keine Vermisstenanzeige aufgeben, wenn ihr Kind verschwindet?«
»Die meisten tun das sicher«, erwidere ich. »Am Anfang versuchen sie wahrscheinlich, alles selbst in die Hand zu nehmen, aber wenn sie dann Angst bekommen und sich die Lage wirklich bewusst machen, würden sie sich schon an die Polizei wenden.« Ich denke einen Moment darüber nach. »Allerdings sollte man nicht vergessen, dass es viele Amische gibt, die glauben, dass Gott sich kümmern wird. Wenn man das zusammen mit dem Misstrauen gegenüber den Englischen – besonders der englischen Polizei – bedenkt, kann ich mir durchaus vorstellen, dass manche Familien eben keine Vermisstenanzeige aufgeben.«
»Das müssen wir im Hinterkopf behalten.«
Ich nicke, bin in Gedanken schon bei einem weiteren Szenario. »Was ist mit dem Fotografen, den Goddard erwähnt hat?«
»Stacy Karns.«
»Wegen seiner Verurteilung und der Tatsache, dass sein Opfer ein junges amisches Mädchen war, gehört er definitiv auf die Liste.« Ich blicke auf die Uhr. »Sollen wir ihm einen Besuch abstatten?«
»Das kann bis morgen warten.« Er blickt mir fest in die Augen. »Du siehst müde aus, Kate. Hast du in letzter Zeit mal geschlafen?«
»Ist schon länger her.«
Er legt ein paar Scheine auf den Tisch. »Was hältst du davon, wenn wir Feierabend machen und das Buck Snort Motel in Augenschein nehmen?«
* * *
Das Buck Snort Motel liegt zwei Meilen außerhalb von Buck Creek direkt am Highway. Es besteht aus etwa einem Dutzend Holzhütten, die sich ein gutes Stück von der Straße entfernt in einem baumreichen Areal befinden, auf dem es auch Picknicktische und einen öffentlichen Grillplatz gibt. In zwei Hütten brennt Licht. Als wir auf den Parkplatz biegen, fällt mein Blick auf eine Gruppe junger Leute an einem der Picknicktische. Die Hütte mit dem Motelbüro ist etwas größer als die anderen, hat ein riesiges Frontfenster, in dem der obligatorische rote Neonschriftzug »ZIMMER FREI« blinkt. Die kleinere Leuchtreklame
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