Tödlicher Applaus
Sekunden, bis Medina in schmerzhaften Krämpfen krepierte. Als er das Zimmer verlassen wollte, entdeckte er einen Mundschutz, hinter dem er sein Gesicht versteckte. Dann marschierte er zielstrebig aus dem Raum, als wäre er unterwegs zu einem anderen Patienten. Willst du nicht bemerkt werden, tritt sichtbar für alle auf.
Rudi eilte durch die Krankenhausflure zurück in die Personalgarderobe, wo er sich die Zeit nahm, den Kittel ordentlich auf einen Bügel zu hängen, ehe er die Treppe hinunter und aus dem Gebäude hastete. Die Kanüle lag in seiner Geldbörse, die Spritze steckte in seiner Tasche. Er wollte beides unauffällig in einem öffentlichen Abfalleimer entsorgen. Danach würde er nach Wien zurückkehren.
Eine schwere Entscheidung
Tom Hartmann stand erneut vor dem Grand Hotel. Es war Sonntag, kurz vor fünf. Tom wusste nicht, wie er das deprimierende Zeitfenster, das sich vor ihm auftat, füllen sollte. Die Erfolgreichen und Zufriedenen bereiteten zu Hause das Abendessen vor. Die Loser hingegen hingen in billigen Bierkneipen herum und waren viel zu früh betrunken. Tom stand unschlüssig vor dem Grand Hotel. Sollte er Kamarovs Umschlag abholen oder nicht? Blieb ihm überhaupt eine andere Wahl? Schlug er Kamarovs Angebot aus, musste er Konkurs anmelden. Nahm er es an, würde Kamarov vermutlich das Ruder über sein Leben übernehmen. Und ob ihm das schmecken würde, wusste er wirklich nicht.
Die Leute strömten aus beiden Richtungen an ihm vorbei. Jedes Individuum ein Konglomerat aus Träumen, Ambitionen, Ängsten, Niederlagen, Abgründen und Schmerz. Was war wichtiger? Die Katastrophe in der Oper oder der schmerzende Weisheitszahn, das eigene Leid? Es war an der Zeit für eine Entscheidung.
Tom beschloss, wenigstens schon mal ins Foyer zu gehen. Ihm war kalt, und die Wärme stimmte ihn gleich etwas milder. Er sank auf eines der weichen Sofas, in sicherer Entfernung von der Rezeption, als er sie sah: Cathrine, Cecilie und Matthias.
»Cecilie«, rief er, ohne nachzudenken. Seine Tochter drehte sich um, lief auf ihn zu und warf sich an seinen Hals. Er genoss die Wärme ihres zierlichen Körpers, die Kraft der Umarmung und sog den Duft des hellen, frisch gewaschenen Haares ein.
»Ich vermisse dich so, Papa«, flüsterte sie. »Wann kommst du wieder nach Hause?«
Doch bevor er antworten konnte, standen Cathrine und Matthias vor ihm und zerstörten diesen Augenblick der Nähe.
»Na, wieder auf den Beinen? Grauenvolle Sache, das mit diesem Tenor.«
Tom hasste Matthias’ nonchalanten Plauderton. Cathrine witterte Gefahr und mischte sich ein, ehe Tom eine sarkastische Erwiderung anbringen konnte.
»Wie war dein Treffen mit Kamarov?«
Tom zuckte mit den Schultern und bedachte Cathrine mit einem Blick, der sie nicht gerade dazu einlud, das Thema zu vertiefen.
»Wir sind auf dem Weg ins Feinschmecker , um Cecilies Auftritt zu feiern. Und da muss man doch einfach einen Abstecher ins Grand machen, um kurz einen Bellini zu trinken.«
Tom sah Matthias an.
»Das ist Champagner mit …«
»Ich weiß sehr wohl, was ein Bellini ist«, fiel Tom ihm ins Wort. »Ein süßes Gesöff, doch der Bellini war einer der bedeutendsten Komponisten der Opernliteratur. Man nannte ihn auch den ›Schwan von Catania‹. Er wurde nach seinem Tod einbalsamiert.«
»Und du …?«, versuchte Cathrine abzulenken.
»Und ich? Ob ich mich nach meinem Tod auch einbalsamieren lasse?«
»Was machst du heute Abend?« Cathrine mochte Toms Aggressivität nicht.
»Komm«, sagte Tom, nahm Cecilies Hand und zog sie hinter sich her zur Rezeption. Als er seinen Namen nannte, rannte der Mann hinter dem Tresen geradezu los, um den Umschlag von Kamarov zu holen. Er verbeugte sich zigmal, nachdem er Tom den Umschlag überreicht hatte. Tom nahm Cecilie noch einmal lange und fest in den Arm und streichelte ihr zärtlich übers Haar, ehe sie widerstrebend zurück zu ihrer Mutter und deren neuem Partner ging. Sie drehte sich um und warf ihm einen Luftkuss zu, den er erwiderte. Dann streckten sie sich in ihrem üblichen Abschiedsritual die aufgestellten Daumen entgegen.
»Ich werde eine Weile weg sein!«, rief er, als er auf den Ausgang zuging. Tom lächelte. Hoffentlich hatte er ihnen den Appetit verdorben. Da klingelte sein Handy. Victor Kamarov.
»Sie haben mein Angebot angenommen, wie ich sehe. Das freut mich.«
Tom gab sich Mühe, die Fassung zu wahren. »Ich habe den Umschlag abgeholt, aber noch nicht geöffnet. Das würde ich gerne in
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