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Tödlicher Applaus

Tödlicher Applaus

Titel: Tödlicher Applaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Øystein Wiik
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wie sie als Kind auf die Gipfel der Berge geklettert war, um die blaue Adria sehen zu können. Sie erzählte ihm die Legende von den weißen Blumen, die im Frühjahr blühten und die Bilejo Polje den Namen gegeben hatten. Und sie sprach von den ärmlichen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen war, und davon, dass ihr Bruder sie mit einer Au-Pair-Stelle nach Wien gelockt, dabei aber etwas ganz anderes mit ihr vorgehabt hatte. Sie war weggelaufen, aber er hatte sie aufgespürt und ihr gedroht, sie umzubringen. Sie war etwa einssiebzig groß, schlank, mit kleinen Brüsten, dunkelbraunen Haaren und einer hübschen Nase. Die Haut unter der Creme wirkte etwas unrein, aber ihr Blick war klar und intelligent.
    »Halt mich wach«, bat er sie. »Rede, worüber du willst, aber halt mich wach. Wenn ich einschlafe, kann ich das Konzert morgen vergessen.«
    Sie erzählte ihm, was ihr in den Sinn kam. Sprach über das Miroslav-Evangelium, den ganzen Stolz ihrer Heimatstadt. Und von den Gebeten, die auf den letzten Seiten von Gligorije hinzugefügt worden waren. Eines dieser Gebete hatte Gina immer wieder gesprochen, seit sie nach Wien gekommen war. Tag und Nacht: »Herr, vergiss mich nicht, meine sündige Seele, bleib an meiner Seite, auf dass ich nicht bereue, dir gedient zu haben, wenn du mich abweist.« Sie strich mit ihren Fingern über seine verletzte Hand und sagte, dass dieses Gebet heilende Wirkung habe. Dann sprach sie es wieder und wieder und hielt seine Hand dabei fest …
    Das Hoteltelefon klingelte. Ein wütendes, hartnäckiges Schellen. Kamarov war schlagartig zurück im Grand Hotel Oslo.
    »Ihr Fahrer ist eingetroffen. Soll jemand zu Ihnen nach oben kommen, um Ihr Gepäck zu holen?«
     

Trauer
    Ganz Oslo schien eine Wallfahrt zum Opernhaus in Bjørvika zu unternehmen. Ein nicht enden wollender Strom Menschen schob sich über die Brücke, die zur Oper führte. Sie hatten Blumen dabei, Gedenkplakate, Grablichter und Flaggen. Alles wurde sorgsam auf dem weißen Marmor platziert, wobei trotz der Vielzahl der Menschen eine erstaunliche Stille herrschte. Menschen weinten stumm. Fremde umarmten sich und fanden Trost in der gemeinsamen Trauer, die das Land erschütterte. Erst vor sechzehn Monaten war die Oper mit einem unvergleichlichen Festakt eröffnet worden. »Die Oper des Volkes« hatte der Slogan gelautet. Jetzt war sie wirklich zur Oper des Volkes geworden. Aber niemand hatte vorausgesehen, dass es eine solche Tragödie sein würde, die aus dem architektonischen Meisterstück ein gemeinschaftliches Symbol für ein Volk in Trauer machte.
    Rudi betrachtete das Meer der Blumen. Einfallsreiche Händler hatten in aller Eile Verkaufsstände am Zugang der Brücke aufgestellt, die zur Oper führte. Ein Lastwagen lud gerade eine weitere Lieferung ab, als Rudi durch den Kopf schoss, dass auch er einen Kranz niederlegen sollte. Für all die Unschuldigen, die er in seinen persönlichen Krieg mit hineingezogen hatte.
    Wie seltsam er sich gefühlt hatte, als Katja winkend im Taxi verschwunden war, das sie zum Bahnhof bringen sollte. Es war ihm gelungen, sie unauffällig davon zu überzeugen, dass es besser war zu schweigen, und zum Schluss war sie es gewesen, die ihn angefleht hatte dichtzuhalten. Sie würde mit dem Zug nach Kopenhagen und von dort aus weiter nach Wien fahren. Das war eine weitaus diskretere Art des Reisens als ein Flug. Am liebsten wäre er mit ihr gefahren und hätte aufgegeben, wofür er gekommen war, sich mit dem begnügt, was er erreicht hatte. Doch im letzten Augenblick hatte er die Segel gestrafft und Kurs gehalten. Er war nicht der Typ für halbe Sachen. Er musste es zu Ende bringen. Außerdem erhöhte eine gemeinsame Flucht das Risiko, geschnappt zu werden. Mit ein wenig Glück führte Katja die Polizei auf eine falsche Fährte.
    Er wählte einen Kranz mit roten Beeren, die wie Blutstropfen die grünen Zweige zierten, und schloss sich der Schlange der Trauernden an, die sich über die Brücke schob. Das gab ihm für einen Moment die Illusion, die Tat gar nicht begangen zu haben, denn auf ganz eigentümliche Weise war er von den Geschehnissen ebenso berührt wie alle anderen. Schließlich hatte nicht er das Feuer ausgelöst, und doch hatte er indirekt Schuld daran. Rudi fühlte sich in der Gemeinschaft der Trauernden überraschend ruhig und stark. Er spürte, dass er es all den unschuldigen Opfern schuldig war, seine Tat zu Ende zu bringen. Diese Menschen sollten nicht umsonst gestorben sein, und das

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