Tödlicher Applaus
Steen zum Reden zu bringen.
»Gut, sie macht laufend Fortschritte. Maria besucht sie, so oft sie kann. Das Wunder ist wirklich geschehen.« Für einen Augenblick hellte sich Steens Gesicht auf, dann pflügten die Sorgen wieder tiefe Furchen in seine Stirn. »Es gibt viele Schuldige«, begann er. »Und die größte Schuld liegt nicht bei Rudi oder Hans Maier. Die größte Schuld trage ich.«
Tom konnte seine Überraschung nicht verbergen.
»Ich habe nur noch wenige Monate zu leben«, fuhr Steen fort. »Und ich brauche jemanden, dem ich meine Sünden beichten kann. An Gott glaube ich nicht, aber ich habe Vertrauen zu Ihnen, Tom. Ich hoffe, Sie sind bereit, einem alten Mann zu helfen, sein Herz zu erleichtern.«
Tom nickte und legte eine Hand auf Steens trockene und knochige Hand. Der Krebs zehrte sichtlich an ihm.
»Zweiundzwanzig Jahre meines Lebens war ich von dem Gedanken besessen, Rache an Victor Kamarov zu nehmen. Jeden Tag und jede Nacht, wenn ich aufgestanden bin, um Annas Muskeln zu massieren oder sie umzulagern, damit sie sich nicht wund liegt, wuchs die Verbitterung in mir wie ein Krebsgeschwür. Ein Geschwür, das allmählich meine Urteilskraft und meinen Verstand auffraß.
Ich habe Victor Kamarov zweiundzwanzig Jahre lang jeden Tag verflucht. Und ich habe Beweise gegen ihn gesammelt. Mit der Zeit war das ein ansehnlicher Haufen. Ich hätte ihn schon etliche Jahre zuvor hinter Gitter bringen können, ebenso seinen Freund Werner Diepold. Aber ich habe es nicht getan, aus Angst, dadurch Maria zu verlieren. Wie konnte ich ihren Vater anzeigen, ohne zu riskieren, dass sie mich deswegen verachtete?
Da ich bei der Durchforstung von Kamarovs Dokumenten ziemlich pedantisch vorging, fand ich bald heraus, dass Kamarov Medina über all die Jahre um Millionen betrogen hatte. Diese Information ließ ich Medina zukommen, anonym. Ich rechnete damit, dass Medina das Ganze dem Gericht übergeben und dafür sorgen würde, dass Kamarov verurteilt wird. Leider kam es anders.
Medina hat Kamarov erpresst. Und eines Abends rief Stan Vasilov – oder Vater Joachim, wenn Sie so wollen – mich an und erzählte mir von Kamarovs Auftrag, Medina auszuschalten … Ich hätte das Ganze an dieser Stelle stoppen müssen, tat es aber nicht. Ich schloss die Augen und wusch meine Hände in Unschuld.«
Als Michael Steen am Ende seiner Beichte angekommen war, erhob er sich, strich die verknitterte Leinenhose glatt und setzte den Strohhut auf.
Tom streckte ihm die Hand entgegen. Steen ergriff sie mit beiden Händen und drückte sie fest. Tom fing seinen Blick auf und glaubte, Erleichterung darin zu sehen.
»Sie können entscheiden, was Sie damit machen wollen«, sagte Steen und überreichte Tom einen Stapel Dokumente. Dann nickte er Tom zum Abschied zu und ging.
Tom sah der mageren Gestalt nach und dachte an Ginas Gebet: »Herr, vergiss mich nicht, meine sündige Seele, bleib an meiner Seite …« Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es Zeit war, sich allmählich fertig zu machen und zu dem Hotel zu gehen, in dem Cathrine wohnte. Sie wollten in seinem Lieblingsrestaurant zusammen essen.
Es war ein milder Frühlingsabend an der Adriaküste. Die Wiesen waren übersät mit Tausenden weißer Blumen, genau wie Gina es beschrieben hatte. Endlich wusste Tom Hartmann, wie er James Medinas Geschichte schreiben würde. Er schaute zum Himmel hinauf und schickte Gina Vasilov einen freundlichen Gedanken. Und die Sterne leuchteten … Michael Steens Unterlagen mussten warten, wenigstens bis morgen.
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