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Tödlicher Applaus

Tödlicher Applaus

Titel: Tödlicher Applaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Øystein Wiik
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her, so als wolle er einen Tresor knacken. Das Publikum verfolgte den Vorgang wie gebannt. Dann löste er plötzlich, mit unterdrücktem und heruntergespieltem Schmerz, die Schlinge. Die Zuhörer waren wie gespickt, noch ehe er einen einzigen Ton angeschlagen hatte. Er strich sich mit der gesunden Hand über den kahlen Schädel und attackierte den Flügel ohne Vorwarnung.
    Victor vergewaltigte das Publikum, er liebkoste, schlug, bedrängte es und schuf ein Klangbild, wie es nur wenige Pianisten im Laufe ihrer gesamten Karriere vermocht hatten. Die Geschichte Russlands, seine Landschaft und seine Jahreszeiten wurden durch Victors Finger lebendig. Lichte Birkenwälder, breite Flüsse, knisternde Winterkälte, Steppe, schroffes Gebirge. Armut, Luxus im Übermaß, unendliches Leid, Hunger, Revolution, Melancholie. Victor Kamarovs Finger demonstrierten an diesem Samstagmorgen dem verzauberten Publikum die seltene Gabe des Genies. Alle wussten, dass er der Sieger war.
    Eine Schockwelle rollte durch den Saal, als Victor Kamarov mitten in einem Lauf abbrach, weil ein Finger der rechten Hand ihm nicht mehr gehorchte, dann noch einer. Mitten im Takt, unmittelbar vor dem Ziel, hörte er auf zu spielen. Er stand auf, sah das Publikum verzweifelt an, hob die rechte Hand und murmelte verwirrt: »Meine Hand ist … Herr, vergiss mich nicht, vergiss meine Hand nicht, lass mich an deiner Seite sein, ich bereue nichts.«
    Danach ging der Riese zu Boden. Der Flügel ächzte, und der Podiumboden knarrte. Zwei Aufseher eilten herbei, unsicher, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Der Moderator kam auf die Bühne und kündigte eine dreiviertelstündige Pause an, in der die Jury ihre Entscheidung treffen wollte. Mit Hilfe der Aufseher gelang es Victor, auf die Beine zu kommen und die Bühne zu verlassen.
    Gina weinte und murmelte ununterbrochen das Gebet. James war unangenehm berührt. Er wusste nicht, wie er auf Ginas heftige Gefühle reagieren sollte. Linkisch legte er einen Arm um ihre Schulter und suchte vergeblich nach passenden Worten. Gina klammerte sich an ihn.
    »Wir dürfen nicht aufgeben. Alles wird gut, nicht wahr, James? Alles wird gut.«
    Der Moderator betrat die Bühne, um den Gewinner bekannt zu geben. Der erste und zweite Preis gingen an zwei koreanische Pianisten. Technische Wunder, die alles vermitteln konnten, nur nicht den Nerv, von dem Victors Spiel durchdrungen war, ehe er abbrechen musste. Der Applaus war eher verhalten, nicht so leidenschaftlich wie dann, wenn die Musikliebhaber in Wien wirklich etwas schätzten. Der Moderator machte eine Kunstpause und ließ seinen Blick über die Versammlung schweifen.
    »Zum ersten Mal in der Geschichte des Wettbewerbs geht ein Preis an einen Künstler, der trotz abgebrochenen Spiels Publikum und Jury ein einzigartiges Kunsterlebnis beschert hat. Victor Kamarov erhält den dritten Preis von zehntausend Schilling.«
    Der Saal kochte. Die Leute johlten vor Begeisterung und erhoben sich von ihren Plätzen, als Victor die Bühne betrat. James Medina spürte Neid in sich aufkeimen. Würde er jemals solche Begeisterungsstürme wecken? Er sah Ginas verliebten Blick. Sie konnte die Augen nicht von Victor reißen. Fotografen und Journalisten scharten sich um den großen Russen. In diesem Moment hasste James Medina Victor Kamarov.
    Gina schlang ihre Arme um seinen Hals. »Fantastisch, jetzt wirst du berühmt.«
    »Gute Arbeit, Victor!« James krümmte sich innerlich. Es kostete ihn unendliche Überwindung, sich für seinen Freund zu freuen.
    Victor bekam feuchte Augen. Dicke Tränen rollten über seine Wangen. »Ich werde nie wieder spielen. Ich habe gewonnen und verloren.« Er zog die Mundwinkel zu seinem charakteristischen Grinsen nach hinten und stieß gutturale Töne aus, die mit viel Wohlwollen als ein Lachen interpretiert werden konnten. »Das muss gefeiert werden. Auf ins Café Landtmann!«
    Sie bestellten Champagner, aber die Stimmung war alles andere als überschäumend. Victor fasste seine momentane Lage zusammen: Er hatte eine kaputte Hand und zwei Freunde – einen arbeitslosen Tenor und eine junge Frau, die vor ihrem Zuhälter auf der Flucht war. Und er hatte zehntausend Schilling. Nicht gerade viel, um ein Leben darauf aufzubauen.
    »Ich möchte dich singen hören, James. Hören, ob du was taugst.«
     

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    Tom Hartmann machte es sich auf seinem Sitz in der Austrian Airlines Business-Class bequem. Er hatte den Fensterplatz gewählt, da man dort die

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