Tödlicher Applaus
Freiheit hatte zu schlafen, nachzudenken, zu entspannen, unabhängig davon, womit der Rest der Welt beschäftigt war. Außerdem hatte er noch einen Kater vom gestrigen Abend. Rotwein, Cognac und Zigarre, noch ein Cognac …, während er sich durch sämtliche Aufnahmen gehört hatte, die er von Medina besaß. Am Ende hatte er sich für die Turm-Arie entschieden und die Anlage auf Repeat gestellt. Unter Tränen hatte er den Verbrecher verdammt, der auf Medina geschossen hatte, während in seinem Hirn ununterbrochen dieselben Fragen mahlten: Wer um alles in der Welt tat so etwas? Wer um alles in der Welt hatte einen Grund, so etwas zu tun?
Das Ganze war in ein sinnloses Besäufnis ausgeartet. Er war sentimental geworden und hatte angefangen, alle möglichen Leute anzurufen. Unter anderem Cathrine, dann hatte er Matthias zu sprechen verlangt, dem er gehörig die Meinung gegeigt hatte. Tom konnte nicht mehr so genau rekapitulieren, was er gesagt hatte, entsann sich aber schwach, dass er ganz schön heftig geworden war.
Es war sicher nicht das Schlechteste, dass er jetzt erst einmal eine Weile außer Landes war. Er hatte ziemlich planlos gepackt, ein paar verknitterte Hemden und ungebügelte Jeans zusammen mit einem Haufen unsortierter Socken in einen großen Koffer gestopft. Er würde sich was Neues kaufen müssen, falls er länger fortblieb. Der Anzug, den er trug, war nur prinzipiell ein Anzug.
Als die Startbahn die Räder freigab, wurde er behaglich in den Ledersitz gepresst. Er schloss die Augen und glitt in das Grenzland zwischen Schlafen und Wachen, den Zustand, den er beim Fliegen als so angenehm empfand.
Er zuckte zusammen, als er von Medinas Stimme geweckt wurde, die die Turm-Arie sang. Im ersten Augenblick wähnte er sich auf dem Boden seiner Wohnung, aber dann stellte er fest, dass der Gesang aus dem Kopfhörer neben ihm kam. Er hätte dem jungen Mann kaum weiter Aufmerksamkeit geschenkt, hätte dieser nicht Medina auf seinem iPod gehabt. Tom schätzte ihn Anfang zwanzig, er war geschmackvoll gekleidet und hatte die blonden Locken nach hinten gestrichen. Seine Bordkarte lag auf dem Sitz zwischen ihnen. Tom las den Namen, ohne weiter darüber nachzudenken. David Goldberg. Jude?, dachte er. Nicht anzunehmen bei den blonden Locken. Oder hatte er sich die Haare gefärbt? Der Journalist in ihm wurde langsam wach. Der bleiche Teint verlieh dem schmalen Gesicht einen Hauch von Aristokratie.
Die Flugbegleiterin brachte angewärmte Tücher. Tom gönnte seiner dehydrierten Katerhaut eine Portion warme Feuchtigkeit. Danach trank er einen großen Schluck Champagner. An einem Tag wie diesem sollte man grundsätzlich nur Business-Class fliegen. Der Sitznachbar nahm die Kopfhörer aus seinen blonden Locken und Tom ergriff die Chance. »Sie hören James Medina?«, fragte er in akzeptablem Deutsch.
»Wie bitte?«, antwortete der Lockenkopf und sah Tom fragend an. Dann begannen die eisblauen Augen zu funkeln, und die schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ach so!« Er hatte verstanden, dass Tom auf die Musik auf seinem iPod anspielte.
»Ist die Musik zu laut? Soll ich sie leiser stellen? Tut mir leid, wenn ich Sie gestört habe.« David Goldberg war ein leuchtendes Beispiel für mitteleuropäische Höflichkeit. »Medina. Wie tragisch«, sagte er.
»Ich bin Opernkritiker«, erklärte Tom.
»Dann schreiben Sie hoffentlich etwas über diese schreckliche Tragödie«, sagte der junge Mann.
»Tom Hartmann«, stellte Tom sich vor. »Ich habe tatsächlich vor, ausführlich über Medina zu berichten, in meinem Magazin Opera Today . Ich war in der Oper, als es passiert ist.«
»Wirklich?«
Die Pupillen in den jungen, eisblauen Augen weiteten sich ruckartig, bevor sie sich wieder zu stecknadelkopfgroßen Punkten zusammenzogen. Tom interpretierte das als Sensationslust.
David Goldberg drückte auf den Rufknopf für das Kabinenpersonal. »Ich brauche noch was zu trinken!« Er rieb sich die Schläfen. »War ein anstrengender Tag gestern, ist spät geworden!«
Irgendetwas an Goldbergs Verhalten machte Tom stutzig. Außerdem hatte der junge Mann sich ihm nicht vorgestellt. Dabei nahmen es Österreicher sonst immer so genau mit den Umgangsformen. Aber egal! Weshalb sollte David Goldberg sich für einen nicht mehr ganz jungen, leicht angetrunkenen Journalisten wie ihn interessieren?
Die Flugbegleitung kam mit einem Glas Champagner und einem Glas Orangensaft. Goldberg trank einen gesitteten Schluck, setzte die Kopfhörer
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