Tödlicher Applaus
Schulterzucken zu ihm umgedreht. Am nächsten Tag hatte Tom seinen Unterricht bei Tarquini abgebrochen und war nach Norwegen zurückgekehrt, blank und mit gebrochenem Herzen.
Die Frau nickte Tom zu und strich sich übers Haar, ehe sie sich setzte. Tom spürte, wie seine Konzentration auf die Vorstellung für einen Moment nachließ. Er nahm sich vor, Stein zu fragen, wer diese Frau war. Immerhin war er, wenn auch nicht »young«, so doch auf alle Fälle »free and single«.
Und es leuchteten die Sterne
Poikonen drehte sich abrupt um und gab dem Orchester das Zeichen zum Einsatz. Ein Ruck ging durch die Reihe der Musiker im Orchestergraben. Poikonen liebte es, seinem Dirigieren eine gewisse Unberechenbarkeit zu verleihen, weil so alle Musiker während der gesamten Vorstellung aufmerksam sein mussten. Böse Zungen behaupteten, sein größter Triumph gegenüber dem Orchester wäre, dass er den Blechbläsern ausgetrieben hatte, während der Vorstellung Comics zu lesen. Aber die, die ihn mochten, spielten mit größerer Glut als je zuvor.
»Io de’ sospiri!« Der zarte Knabensopran hob sich bemerkenswert klar von dem Orchester ab. »Io de’ sospiri …« – Ich send Seufzer dir so viele wie die Blätter, die im Winde wehen. Du verschmähst mich, ich muss leiden; Sonnenlicht, bringst mir den Tod. « Verletzt, schön und Unheil verkündend. Die Stimme des Hirten verebbte.
Die Drehbühne setzte sich in Gang, und Medina wurde sichtbar. Die Frauen beugten sich betont beiläufig und gelassen in ihren Sitzen vor, damit ihre Ehemänner nicht merkten, welch animalische Anziehungskraft Medina auf sie ausübte. Er war Stimme und Sex pur.
Auch viele Männer bewunderten Medina. Sie konnten gar nicht anders. Medinas zerrissenes Hemd entblößte seinen schwellenden Bizeps und ein stahlhartes Sixpack. Die Muskeln waren mit Öl und Theaterblut eingeschmiert. Die braunen Augen strichen über das Publikum, als würden sie mit jeder einzelnen Frau im Saal den Liebesakt vollziehen. Die dunklen, schulterlangen Locken waren von silbrigen Strähnen durchzogen. Er war ein extrem gut aussehender, charismatischer Mann von fünfundvierzig Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Karriere.
Noch sechzehn Minuten bis zu seiner Hinrichtung.
Tom hielt das Opernglas vor die Augen, um Medina aus der Nähe zu betrachten. Sein Blick war konzentriert und abgeklärt, doch unter der entspannten Oberfläche loderte eine innere, leidenschaftliche Glut. Die Halsmuskeln umhüllten schützend wie solide Drahtseile die weltberühmten Stimmbänder. Es war kaum zu erkennen, dass Medina atmete. Er kam aus der alten Schule, in der die Schüler lernten, Arie für Arie gegen eine brennende Kerze anzusingen, ohne dass die Flamme sich bewegte. Das gab dem Sänger eine Beherrschung über seinen Atem, die durchaus vergleichbar mit den Meditationsübungen mancher Yogis war.
Das Licht um Medina wurde intensiver, und das Vorspiel zu E lucevan le stelle , der sogenannten Turm-Arie, begann.
Eine nahezu übersinnliche Stille trat ein.
»E lucevan le stelle.« – Und es leuchteten die Sterne . Halb sang, halb hauchte Medina die einleitende Rezitativ-Zeile, nonchalant und kaum hörbar und zugleich doch so kristallklar wie das Aufblitzen eines Gedankens. Ich send Seufzer dir so viele wie die Blätter, die im Winde wehen.
Tom Hartmann war begeistert. Ein gewöhnlicher Tenor hätte bereits in der ersten Phrase auf Klang und Volumen fokussiert, aus Angst, seine Stimmgewalt nicht von Anfang an genügend unter Beweis zu stellen. Nicht so James Medina. Die nächste Zeile bekam ein winziges Crescendo, bevor sie sich ganz zurücknahm. Auf diese Weise lud er die Zuhörer in die finstersten Kammern der Seele ein.
»E olezzava la terra.« – Und es duftete die Erde . Er sang, als wäre jeder Ton der letzte. Man glaubte ihm, spürte Cavaradossis Todesangst und seine verzweifelte Lebenslust in den letzten Minuten, bevor die Schüsse fielen.
»O dolci baci, o languide carezze.« Ein perfektes Mezzavoce auf dem schwierigen Fis, dem Übergang zwischen Brust- und Kopfton, der sogenannten »Passagio«. Ein Raunen der Bewunderung ging durch den Saal. Dann folgten ein Crescendo und Decrescendo auf dem hohen A, so atemberaubend schön gehalten, dass Tom Hartmann wünschte, es möge nie enden. Medina ließ den Ton im Grenzland zwischen Echo und Stille ausklingen, bis man nicht mehr wusste, ob er noch zu hören war oder ob es einzig ein Nachzittern der Stille war.
»Svani per sempre il sogno
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