Tödlicher Applaus
Willenskraft mobilisieren, um nicht nachzugeben. Er wendete den Blick nach hinten und schaute über den Oslofjord. Die Sterne leuchteten dort draußen tatsächlich – wenn auch blasser als seine strahlend hellen Töne. Das Gefühl baute sich in ihm auf. Das febrile Zittern und das Beben im Herzen, das er brauchte, um seinen göttlichen Gesang abzufeuern. Das Gefühl, sich um Haaresbreite nicht der Energieexplosion hinzugeben, nicht jede Kontrolle zu verlieren, sondern sie im Gegenteil zu übernehmen. »O dolci baci, o languide carezze.« – O süße Küsse, o sehnsüchtiges Kosen . Er konzentrierte sich mit aller Macht darauf, seine Stimme mit der Energie in seinem Unterleib zu koppeln.
»E non ho amato mai tanto la vita.« – Und hab das Leben niemals so sehr geliebt . Diesmal sang er mit lauter Stimme. Die Frau hielt inne, verzaubert und verwirrt zugleich. Er schob sie weg, um zu vermeiden, dass er kam. Dann zog er die Hose hoch, streifte das zerfetzte Hemd über und zündete sich mit einem cognacgetränkten Zedernholz eine Zigarre an.
»Danke«, sagte er. »Du hast mich inspiriert, mich auf den Schwingen der Liebe emporgehoben. Heute Abend singe ich nur für dich. Gott wird Freudentränen weinen.«
»Tausend Dank«, antwortete die Frau, über das Lob errötend, während sie sich das Chanel-Kostüm wieder anzog, kurz ihr Haar in Ordnung brachte und zu dem wartenden PR-Chef nach draußen schlüpfte.
»Die Vorstellung beginnt in fünf Minuten, in fünf Minuten!« Die Stimme des Inspizienten krächzte aus der Lautsprecheranlage. James Medina nahm einen letzten Zug von der Zigarre, um die Schleimhäute zu betäuben. Danach war er bereit, die Bühne als Mario Cavaradossi zu betreten.
Tom Hartmann
Tom Hartmann hatte eine Karte in der sechsten Reihe bekommen, einen der für den Intendanten reservierten Plätze. Solche Ehre wurde Kritikern nur selten zuteil. Das hatte er seinem Freund Stein Jørgensen zu verdanken, PR-Chef der Norwegischen Oper und des Balletts.
Tom Hartmann war Anfang vierzig, dunkelblond und mittelgroß. Sein Haar war dick und zerzaust, und sein Bart, den er hatte, solange er sich erinnern konnte, bekam auf beiden Seiten des Kinns allmählich graue Einsprengsel. Er war schlank, aber nicht durchtrainiert, eher der Typ intellektueller Oberlehrer als modischer Trendsetter. Seine Augen strahlten einen jungenhaften, abwesenden Hugh-Grant-Charme aus.
Tom Hartmann hatte für den Tag nach der Vorstellung die Zusage für ein umfangreiches Exklusivinterview mit Medina bekommen, das ihm auch die Opernkarte gesichert hatte. Später war diese Zusage von Kamarovs Büro wieder zurückgezogen worden, weil Medina sich, wie es hieß, umentschieden habe. Ein anderer Grund war ihm nicht genannt worden. Auch Toms Stimmung hatte daraufhin umgeschlagen und schwankte nun zwischen Wut und Verzweiflung.
Zwei Jahre zuvor hatte Hartmann das Abfindungspaket des Dagbladet akzeptiert und sich damit einen lang gehegten Wunsch erfüllt. Er hatte eine eigene Zeitschrift ins Leben gerufen, die Opera Today . Das Blatt war mittlerweile unter Kennern international hoch angesehen. Doch Tom besaß leider kein Talent als Ökonom und hatte es nicht geschafft, die nötige Balance zwischen Einnahmen und Ausgaben zu halten, sodass ihm nun der Konkurs drohte. Hätte James Medina sich an seine Abmachung gehalten und sich für Toms Zeitschrift interviewen lassen, hätte ihm dies erst einmal wieder etwas Luft verschafft. Aber nein.
Tom Hartmann war als Rezensent beim Dagbladet nicht übermäßig erfolgreich gewesen. Er war zu gebildet und der Opernwelt zu wohlgesonnen, um ein gefürchteter Kritiker zu sein oder einer jener Schlächter, die die Regenbogenpresse so liebte. Hartmann betrachtete die Dinge immer von verschiedenen Seiten, was es ihm mitunter erschwerte, feste und unerschütterliche Standpunkte zu beziehen. Hatte er einer Vorstellung ein seltenes Mal den Todesstoß versetzt, verbreitete sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer. Wenn er dann seinen Schreibtisch verließ und den Empfang erreichte, erkundigte sich bereits der Pförtner eifrig: »Ist das wahr? Sie haben Figaros Hochzeit heute Abend in der Luft zerrissen?« Hatte er aber eine Vorstellung bis in den Himmel gelobt, blieb derselbe Pförtner stumm. Zeitungen verkauften sich nicht durch lobende Worte. Ein Skandal hingegen war immer eine gute Nachricht. Tom Hartmann hatte die Konsequenzen gezogen und gekündigt.
An diesem Abend in der neuen Oper hatte er allerdings die
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