Tödlicher Mittsommer
gewesen sein, und sie hatte eine besonders hohe Dosis genommen.
Was ganz normal war, wenn man ein üppiges Essen kompensieren wollte.
Aber jetzt würde das Insulin nicht den Zucker in frisch zugeführten Kohlenhydraten aufspalten. Stattdessen würde es die schon im Körper vorhandenen Kohlenhydrate verbrauchen. Kohlenhydrate, die ohnehin von der Anstrengung, die ganzen Treppen im Leuchtturm hinaufzugehen, viel schneller als gewöhnlich verbrannt worden waren. Kam nicht bald ein Nachschub an Kohlenhydraten, würde das Gehirn von einer Art Milchsäure angegriffen werden. Und wenn in diesem Stadium kein Zucker zugeführt wurde, fiel der Körper in einen Insulinschock.
Und dann starb man.
Nora wusste nur allzu gut, wie das ablief.
Zuerst wurde man zittrig und teilnahmslos, dann kam Herzrasen und Schüttelfrost hinzu. Es folgten Wahrnehmungsstörungen bis hin zur völligen Desorientierung. Während der Blutzuckerspiegel im Körper immer weiter sank, würde sie apathisch werden, dann unbezwingbar schläfrig und schließlich ohnmächtig.
Die Ohnmacht würde in ein Koma übergehen, und das Koma führte zum Tod. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der Körper endgültig aufgab.
Es ist vielleicht kein unangenehmer Tod, dachte Nora verzweifelt. Aber sie wollte nicht sterben. Nicht hier und jetzt. Einsam und gefangen in einem alten Leuchtturm.
Sie zwang sich, nicht an die Kinder zu denken, um nicht weinen zu müssen.
Die Frage war, wie viel Zeit ihr noch blieb. Wenn es nach Mitternacht war, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie das Bewusstsein verlor. Wenn sie doch nur etwas zu essen hätte!
Normalerweise hatte sie immer Traubenzucker oder etwas Ähnliches dabei, aber sie hatte nicht daran gedacht, etwas einzustecken, weil sie ja nicht lange wegbleiben wollte.
Sie hätte sich ohrfeigen können. Hatte sie an diesem Abend überhaupt irgendwas richtig gemacht?
Wo war die Taschenlampe? Langsam kroch sie herum und tastete den Boden ab. Vielleicht konnte sie mit der Lampe Blinksignale geben. Wenn man viel Zeit auf dem Meer verbrachte hatte, kannte man das Notsignal SOS im Schlaf. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Mit Hilfe der Taschenlampe könnte sie sich bemerkbar machen.
Sie wischte noch einmal mit den Händen über den Boden. Endlich. Da war sie. Mit zitternden Fingern drückte sie den Einschaltknopf.
Keine Reaktion.
Sie untersuchte die Taschenlampe, so gut es im Dunkeln ging. Das Glas war zerbrochen und sie schnitt sich in den Zeigefinger. Sie hielt die Lampe ans Ohr und schüttelte sie vorsichtig, um zu hören, ob sie kaputt war. Es klapperte nichts, aber es kam auch kein Licht. Die Taschenlampe funktionierte nicht.
Wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Es musste eine Möglichkeit geben, irgendjemandem da draußen mitzuteilen, wo sie war.Plötzlich fiel ihr ein, wenn sie ihr Mobiltelefon fände, könnte sie Hilfe herbeirufen. Vielleicht hatte sie vorhin nicht sorgfältig genug gesucht. Vielleicht lag es ja doch irgendwo hier im Leuchtturm.
Sie rutschte auf Knien vorwärts und tastete ihre Umgebung ab. Systematisch Zentimeter für Zentimeter.
Aber da war kein Handy.
Atemlos erreichte sie den nächsten Absatz und kroch an der Wand entlang, mehrere Runden. Sie kam zu dem toten Gang und suchte jede einzelne Treppenstufe ab. Nirgends ein Handy.
Auf allen vieren kroch sie die Treppe hoch zum Absatz mit der schmalen Stiege, die zur Leuchtfeuerkuppel hinaufführte. Sie setzte sich auf den Boden und öffnete die Tür zum Söller. Jetzt kam ein wenig Licht herein, aber was half das schon.
Niemand wusste, wo sie war.
Jetzt konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie begann heftig zu weinen und musste gegen ihren Willen an ihre Söhne denken, was das Schluchzen noch verstärkte.
Wie hatte sie nur so unvorsichtig sein können?
Warum hatte sie dieses blöde Handy verloren? Warum hatte sie eingewilligt, dass Signe sie begleitete? Warum hatte sie niemandem Bescheid gesagt, dass sie nach Grönskär fuhr?
Sie krümmte sich auf dem harten Steinboden zusammen. Kein Laut war zu hören, nur ihre eigenen abgehackten, furchtsamen Atemzüge.
Sie schlang die Arme um den Oberkörper, um sich zur Ruhe zu zwingen. Sie musste nachdenken, aber ihre Gedanken liefen Amok.
Sie sah sich selbst tot auf dem Steinboden liegen. Von aller Welt verlassen und vergessen.
Großer Gott, was hatte sie für eine Angst.
Draußen war es jetzt endgültig dunkel. Die Leuchtfeuer in unmittelbarer Nähe, Svängen und
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