Tödlicher Mittsommer
unbemerkt aus der Tasche gerutscht.
Sie bückte sich und tastete nach dem Reserveschlüssel, der tatsächlich unter dem flachen Stein versteckt lag, von dem der Leuchtturmwärter erzählt hatte. Ohne Probleme bekam sie das Vorhängeschloss auf und öffnete die schwarze Gittertür.
»Es sind ziemlich viele Stufen«, sagte sie zu Signe. »Willst du dir das wirklich zumuten?«
»Klar, ich bin doch keine alte Oma. Na los«, erwiderte Signe.
Sie stiegen langsam die Treppe hinauf und machten auf jedem Absatz Halt, um zu suchen. Nora leuchtete den Boden sorgfältig mit der Taschenlampe ab. Kein Mobiltelefon zu sehen, weder auf dem ersten noch auf dem zweiten Absatz. Jetzt hätte sie noch ein Handy dabeihaben sollen, dann hätte sie ihre eigene Nummer anrufen und dem Klingeln folgen können. Aber daran hatte sie nicht gedacht, als sie losfuhr.
Am dritten Absatz kamen sie an den toten Gang mit den sieben Treppenstufen. Nora versuchte sich zu erinnern, ob sie in diesem Gang stehen geblieben war. Ja, als sie das erste Mal hinaufgingen. Aber nicht beim zweiten Mal. Sicherheitshalber leuchtete sie trotzdem in jede Ecke.
Sie gingen die letzte Steintreppe zum obersten Absatz hinauf, der nur ein kleines Rondell war, knapp zwei Meter im Durchmesser. Von hier aus führte die schmale weiße, gusseiserne Stiege hinauf zum eigentlichen Leuchtfeuer. Neben der Stiege war die grüne Tür, durch die man auf den Söller kam.
Nora drehte sich zu Signe um.
»Warte hier, ich klettere hinauf und sehe nach. Ich möchte nicht,dass du dir womöglich ein Bein brichst, nur weil du so nett warst, mich zu begleiten.«
Der Blick aus der kleinen Kuppel war beispiellos schön. Obwohl sie die Aussicht schon am Vormittag bewundert hatte, konnte sie sich kaum losreißen.
Es war, als stünde man auf einer Wolke und schaute übers Meer. Tagsüber war der Anblick schon fantastisch, aber jetzt in der Abenddämmerung geradezu märchenhaft. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne tauchten den ganzen Schärengarten in rosagoldenes Licht, und am Horizont verschmolz der Himmel mit dem dunkelgrünen Meer.
Für einige Sekunden vergaß sie ihren ganzen Kummer mit Henrik. Die Schönheit, die sich vor ihr ausbreitete, gab ihr neuen Mut.
Das Leben war doch herrlich.
Unterhalb des Turms sah sie das Haus des früheren Leuchtfeuermeisters, in dem jetzt der ehrenamtliche Leuchtturmwärter wohnte. Daneben standen mehrere ältere Wohnhäuser, die der Schärengarten-Stiftung gehörten. In allen Häusern war es dunkel und still, vielleicht hatten die Bewohner sich von den Freitagabend-Aktivitäten auf Sandhamn weglocken lassen.
»Hast du was gefunden?«
Signes Stimme hallte in die Kuppel hinauf.
Nora sah sich um. Als das Leuchtfeuer 1961 stillgelegt wurde, hatte man die Lampenanordnung mit den Prismen in der Kuppel gelassen. Alles war noch vollkommen intakt. Die Prismen waren zum Schutz in Leinenstoff gehüllt. Die Lampe selbst blinkte schwachgrün.
»Nein, nichts«, rief Nora zurück. »Gar nichts.«
Die Sonne war inzwischen fast hinter Harö verschwunden, und das Licht wurde langsam fahl. Nora machte vorsichtig eine Runde auf der Galerie und hielt nach dem metallischen Schimmern ihres Handys Ausschau.
»Warte, ich gebe dir die Taschenlampe«, rief Signe und reichte ihr die Lampe durch die schmale Öffnung hoch. Sie kam gerade so heran.
Suchend ließ Nora den Lichtstrahl durch die Kuppel gleiten. Einmal nach rechts und einmal nach links. Sie kam sich beinahe selbst wie ein alter Leuchtturmwärter vor. Noch einmal leuchtete sie den Raum mit der Taschenlampe ab. Dann gab sie auf. Hier im Turm war kein Handy. Sie begann, die Stiege wieder hinabzuklettern.
»Ich glaube, wir müssen aufgeben. Das Handy kann überall sein. Ich komme lieber morgen noch mal her und suche bei Tageslicht. Es nützt ja nichts.«
Sie verwünschte ihre eigene Schlampigkeit.
Als sie unten angekommen war, blieb sie vor der Tür zum Söller stehen.
»Es ist so schön hier. Man könnte fast glauben, dass Gott da draußen am Horizont wohnt.«
Sie sah Signe an.
»Die Fischgründe um Grönskär gehören doch dir, oder?«
Signe nickte.
»Ja, fast alles, was du hier draußen siehst, gehört unserer Familie. Ich fahre oft zum Fischen hinaus, wie du weißt. Von irgendwas muss man ja satt werden«, fügte sie mit schiefem Lächeln hinzu.
Sie schüttelte den Kopf, während sie sich ans Treppengeländer lehnte.
»Aber im Moment gibt es unheimlich viele Raubfischer. Etliche Leute
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