Tödlicher Mittsommer
gleich bei euch. Ich nehme den Buster, dann brauche ich nur eine Viertelstunde. Schau du unterdessen in der Taucherbar und im Klub vorbei, nur sicherheitshalber. Wenn wir Glück haben, sitzt sie dort und trinkt Rotwein.«
Thomas zog einen Pullover über und lief zum Steg hinunter. Er war wirklich froh, dass er letzten Sommer beschlossen hatte, sich ein starkes Motorboot mit Steuerkonsole anzuschaffen. Sein Buster Magnum war schnell und zuverlässig. Es konnte mühelos eine Geschwindigkeit von fünfunddreißig Knoten erreichen, falls es notwendig war.
So wie jetzt.
Rasch machte er die Leinen los und zog den Gashebel zurück. Bereits nach wenigen Minuten sah er vor sich die Lichter von Sandhamn. Die nagende Unruhe in der Magengrube wurde stärker. Als Polizist hatte er gelernt, seinen Instinkten zu vertrauen. Und jetzt fühlte er, dass etwas nicht stimmte.
Bei einer anderen Frau hätte er vermutet, dass sie die Abwesenheit ihres Mannes für einen kleinen Seitensprung nutzte. Aber in NorasFall war das undenkbar. Sie war viel zu solide für einen Sommerflirt. Außerdem wusste sie ja, dass Henriks Boot in dieser Nacht zurückkehren würde.
Der Steg der Familie Linde tauchte aus der Dunkelheit auf. Er nahm das Gas weg und legte an der Brückennock an. Mit geübten Griffen vertäute er das Boot und ging mit langen Schritten zu Noras und Henriks Haus hinauf.
Henrik erwartete ihn an der Gartenpforte.
»Komm mit«, sagte er. »Ich muss dir was zeigen.«
Sie gingen in die Küche. Der Tisch war liebevoll für eine Person gedeckt. In der Mitte stand eine Platte mit Hähnchenfilets. Anscheinend stand sie schon eine ganze Weile dort.
»Sieht das hier etwa so aus, als hätte sie vorgehabt, den Abend woanders zu verbringen?«
Thomas schüttelte den Kopf.
»Ich will dir noch was zeigen.«
Henrik ging zur Spüle, auf der eine kleine angebrochene Ampulle stand.
»Hier«, sagte er, »eine halb volle Ampulle Insulin. Im Mülleimer habe ich noch eine gefunden, leer.«
Thomas sah ihn fragend an. »Was bedeutet das?«
»Nora nimmt ihr Insulin immer unmittelbar vor dem Essen. Das muss man, wenn man Diabetiker ist«, sagte Henrik. »Sonst schafft der Körper es nicht, die Kohlenhydrate zu verwerten, die ihm mit der Mahlzeit zugeführt werden.«
»Aber sie scheint ihr Insulin doch genommen zu haben.« Thomas verstand nicht, worauf Henrik hinauswollte.
Henrik hob die Fleischplatte hoch.
»Ja, aber sie hat nichts gegessen. Hat das Essen nicht mal angerührt. Und daneben liegt eine Tafel Schokolade. Nora liebt dunkle Schokolade. Aber auch davon hat sie nichts gegessen.«
Thomas verstand immer noch nicht.
»Was spielt das für eine Rolle?«
Henrik warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. Langsam, als spräche er zu einem Kind, erklärte er:
»Ein Diabetiker, der sein Insulin eingenommen hat, muss auch essen. Und zwar ziemlich bald. Sonst riskiert er einen Insulinschock. Und kann ins Koma fallen.« Er schluckte. »Wenn man dem Körperviel Insulin zuführt ohne die entsprechende Menge Kohlenhydrate, wird man bewusstlos und stirbt. Bestenfalls trägt man nur Hirnschäden davon. Verstehst du, was ich die ganze Zeit zu sagen versuche?«
Thomas wurde blass. Jetzt begriff er, wie ernst die Lage war.
Henrik ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und stützte den Kopf in die Hände. »Wo zum Teufel kann sie nur sein?«
»Wie viel Zeit bleibt uns, sie zu finden?«, fragte Thomas, dessen Verstand schon begonnen hatte, die Situation professionell zu analysieren.
»Das kommt darauf an, wann sie das Insulin genommen hat. Nach ein paar Stunden können schon dauerhafte Schäden zurückbleiben, auch wenn wir sie lebend finden.«
Thomas merkte, wie ihm Schweißperlen auf die Oberlippe traten.
»Geh noch mal zu ihren Eltern rüber, vielleicht haben sie eine Idee, wo Nora sein könnte. Klopf bei den Nachbarn und erkundige dich, ob jemand sie gesehen hat.«
Plötzlich fiel ihm der Brief ein, den Carina und er am Nachmittag in Krister Berggrens Wohnung gefunden hatten.
Das fehlende Verbindungsglied.
Er drehte sich zu Henrik um.
»Signe Brand könnte etwas mit der Sache zu tun haben. Ich gehe gleich mal zu ihr.«
Er lief mit langen Schritten das kurze Stück bis zu dem großen Haus gleich nebenan. Die Brand’sche Villa lag einsam und verlassen da. Der ganze Kvarnberget war um diese Zeit wie ausgestorben. Die Jugendlichen, die in den Ferien auf Sandhamn jobbten, trafen sich hier gern an lauen Sommerabenden, aber jetzt, tief in der Nacht,
Weitere Kostenlose Bücher