Tödlicher Staub
Telefongespräch wirkte, sie setzte sich in einen Sessel und dachte über Sendlingers Worte nach. Was ist Liebe? Einen Mann zum Mittelpunkt des Lebens zu machen? Sich nach ihm zu sehnen? Sie konnte sich nicht denken, daß so etwas bei ihr jemals möglich sein könnte. Männer waren Objekte für Spiel und Spaß und mußten für die Illusion, geliebt zu werden, bezahlen. Daß sie das nicht merkten, bewies einmal mehr ihre Dummheit. Eine Frau ist immer die Stärkere und Klügere, wenn sie ihren Körper hergibt … dann hält sie die ganze Welt in der Hand und nicht nur ein Zipfelchen Männlichkeit.
Am Abend rief Igor Germanowitsch aus Krasnojarsk an.
»Wie geht es dir, Schweinchen?« rief er fröhlich ins Telefon.
»Du sollst Dr. Sendlinger anrufen. Die Tante wartet auf die Blumen …«
Sybin lachte laut. Er war in bester Stimmung. »Sag ihm: nur ein wenig Geduld. Der Gärtner pflückt gerade die Blumen. Es sind prachtvolle Exemplare. Die Tante wird sich sehr freuen. Und was machst du?«
»Ich lese Puschkin.«
»Bereite dich darauf vor, nach Deutschland zu fliegen.«
Natalja schüttelte den Kopf, aber das sah Sybin nicht. Sie fragte nur: »Muß das sein?«
»Würde ich es sonst sagen? Du sollst der Tante die Blumen bringen …«
Er lachte wieder und beendete das Gespräch. Natalja warf wütend den Hörer auf die Gabel. Was bildet er sich ein? Bin ich sein Geschöpf? Wie einem Hund ruft er mir zu: »Los! Lauf! Fang! Hierher! Kusch! Sitz! Mach bitte, bitte! Leg dich hin!« Und ich soll gehorchen … wie ein dressiertes Tier!
Sie sprang auf, rannte in dem großen Wohnraum hin und her, blieb nach einer Weile stehen und sah sich um. Sie wohnte jetzt in einer schönen, neuen Datscha, die Sybin für sie gebaut hatte. Ringsherum Birkenwald und golden blühender Ginster, ein Blumengarten mit einem kleinen Teich voller rotschimmernder und silbernglänzender Fische, eine aus dicken Bohlen gezimmerte Banja mit Sauna. Und dann das Haus selbst: großzügig in den Ausmaßen, möbliert mit den wertvollsten Möbeln, die Sybin aus Deutschland hatte kommen lassen, Teppiche aus Turkmenien und Persien, alte Kasaks und Seidenbehänge aus Nain, Wandbespannungen aus chinesischer Seide und Brokatkissen aus Thailand … hier spiegelte sich der neue Reichtum wider, den Sybin mit seinem ›Konzern‹ zusammengerafft hatte. Mit Bestechungen, Schutzgelderpressung, Prostitution, Rauschgift, Nachtbars und Beteiligungen an Immobiliengeschäften, Industriewerken, Exportfirmen und Handelsgesellschaften. Die Krönung des ganzen sollte der Atomschmuggel werden … dann wollte Sybin auswandern und sich in die Südsee- oder Karibiksonne legen.
Das alles hat er für mich bezahlt, dachte Natalja und ging durch das große Haus. Er hat mich aus der Bar herausgeholt, ich muß nicht mehr nackt tanzen und meine Bärchennummer abziehen … er hat mich, wie man so sagt, gesellschaftsfähig gemacht. Wo ich mit ihm hinkomme, küßt man mir die Hand und liest mir meine Wünsche von den Augen ab. Muß ich da nicht dankbar sein? Muß ich ihm nicht wie ein gestreichelter Hund zu Füßen liegen? Und kann er mich nicht auch wegjagen wie einen lästigen Hund, wenn er es will? Natalja Petrowna, gehorche! Man hat dich mit Gold überschüttet … wirf es nicht weg, denn darunter bist du nackt.
Verdammt, ja – ich bin dein Geschöpf Igor Germanowitsch … aber erlaube, daß ich dich hasse!
In Krasnojarsk erwartete – wie immer – ein Angestellter des ›Konzerns‹ seinen Chef Sybin.
Krasnojarsk im südlichen Sibirien ist eine große, lebendige Stadt mit über neunhunderttausend Einwohnern. Es hat eine Universität, Lokomotivfabriken, Schiffswerften und Maschinenbaukombinate, eine der größten Aluminiumhütten Rußlands, ist bekannt für seine Leder-, Holz- und Papierindustrie, die Textilfabriken beliefern ganz Rußland. Es gibt einige chemische Werke und eine blühende Erdölraffinerie. Der Hafen am mächtigen Strom Jenissei ist der Umschlagplatz für alle Güter in Südsibirien, und der Flughafen wird jeden Tag von Moskau aus angeflogen.
Nur eines erwähnt man nicht, und es ist – wie in Tscheljabinsk – auch auf keiner Karte verzeichnet: das Gebiet von Krasnojarsk-26. Dies ist ein mit einem drei Meter hohen Stacheldraht eingezäuntes Areal, überragt von Wachtürmen, auf denen starke Scheinwerfer montiert sind, und bewacht von einer Spezialeinheit von dreitausend Soldaten des Innenministeriums, die man eigens zur Sicherung der Zugänge nach Krasnojarsk
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