Tödlicher Steilhang
ihre Entwicklung gewesen, dass sie sich früh von der Mutter losgemacht hatte, auch beiseitegedrängt von der Schwester, und sie war still ihre eigenen Wege gegangen. Im vergangenen Jahr, in dem alles eskaliert war, hatten sie sich aufeinander zubewegt, so still, dass es Miriam entgangen war, sonst hätte sie es zu verhindern gewusst.
»Ich müsste alles vorbereiten, bevor du kommst, wir bräuchten eine größere Wohnung, eine Schule für dich …«
»Alles Ausreden, Papa, alles Quatsch. Ihr Erwachsenen seid blöd. Immer müsst ihr erst irgendwas machen, bevor ihr was anderes macht«, sage Rose böse und enttäuscht. Bisher hatte sie auf Georgs Schoß gesessen, jetzt machte sie sich aus seiner Umarmung frei. »Immer habt ihr Ausreden, warum ihr nicht gleich etwas macht. Immer fehlt was, immer muss vorher noch was anderes erledigt werden.« Sie hielt inne und sah ihren Vater nachdenklich an. »Wie lange würde das dauern, das, was du vorbereiten musst?«
»Woher soll ich das wissen? Ich weiß noch gar nicht, was das Vormundschaftsgericht sagen wird.« Sie kannte den Begriff nicht, und er erklärte ihr, worum es sich dabei handelte.
»Wieso entscheiden andere Leute, wo ich lebe? Immer muss ich machen, was andere wollen, du, Mama, Jasmin, die Lehrer, das komische Vorgericht. Wann darf ich mal was entscheiden?«
»Du stellst schwere Fragen.«
»Die leichten kann ich selbst beantworten.«
»Wann? Das weiß ich nicht – wenn du erwachsen bist.«
»Und wann bin ich das? Das entscheiden auch die Erwachsenen? Na, das werden wir ja sehen …«
Nach dem Kaffeetrinken hatte Georg Gelegenheit, sich mit den Eltern von Kathrin zu unterhalten. Sie hatten sie diskret in ihre Familie integriert, Rose war häufig bei ihnen, von Jasmin sahen und hörten sie nichts. Das Ehepaar versprach, sich weiter um Rose zu kümmern und Georg auf dem Laufenden zu halten. Es machte ihnen Freude, dass die beiden Mädchen wie Geschwister miteinander umgingen, oder so, wie man es sich wünschte.
»Freunde kann man sich aussuchen, Verwandte leider nicht«, sagte Georg an der Haustür, als er sich verabschiedete.
Kathrins Eltern hatten ihn beruhigt, wenn erst die Pubertät vorbei sei, etwa in zwei oder drei Jahren, würde sich das Verhältnis zu Jasmin bestimmt normalisieren. Bei Freunden von ihnen sei das ähnlich. Georg war ruhiger, er war zuversichtlich, er war dankbar für die Worte. Aber noch drei Jahre warten? In drei Jahren würde er vollends den Kontakt zu Jasmin verloren haben. Der Abschied von Rose fiel ihm heute nicht so schwer, da sie sich am nächsten Tag wieder hier treffen und einen ganzen Tag zusammen verbringen würden – bevor er abends an die Mosel zurückfuhr. Außerdem freute er sich jetzt auf das Treffen mit Pepe.
Sein alter Kumpel saß im Muskelshirt auf einem Sofa vor der Schrankwand aus Eichenfurnier – in den muskelbepackten tätowierten Armen hielt der Altrocker sein jüngstes Kind und gab ihm die Flasche. Vera war ein Nachzügler. Die Mutter besuchte eine Freundin, sein Sohn war zu einem Judoturnier gefahren, der Zehnjährige trainierte in dem Verein, für den auch Georg angetreten war.
Pepe war die Karikatur des Bikers: vierschrötig, lange Matte, eine Narbe rechts an der Wange, große Ohrringe, Bart mit ersten grauen Fäden und wüste Pranken, ein Mann, um den jeder normal empfindende Mensch einen Bogen gemacht hätte, um nicht von einem vermeintlichen Mitglied der Hells Angels niedergemacht zu werden. Pepes Anblickmachte Angst, wenn er den Raum betrat, herrschte Stille. Aber er war, solange man ihn nicht krumm anging, eine Seele von Mensch, ein beinahe treuer Ehemann und ein zärtlicher Vater. Georg fragte sich allerdings, mit einem leichten Schmunzeln, welche Bilder bei der martialischen Figur eines in Schwarz gekleideten Vaters sich in das frühkindliche Gemüt der kleinen Vera einprägen würden. Das Baby schien zufrieden und griente, wenn Georg den Ausdruck richtig interpretierte, und er erinnerte sich daran, als seine Mädchen noch so klein und die Welt noch in Ordnung gewesen war. Aber dass sie es gewesen sein sollte, war ein Trugschluss, den er erst jetzt erkannte.
»Halt mal«, mit diesen Worten stand Pepe auf, überreichte Georg das Baby und ging in die Küche, wo er die italienische Mokkakanne mit Wasser und Kaffee füllte und auf die Herdplatte stellte.
Georg war ihm gefolgt, und während die Herdplatte heiß und das Wasser durch den Kaffee im Sieb nach oben gepresst wurde, begann er seinen
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