Tödlicher Steilhang
›Manfred Speck‹ etwas?«
Georg war auf die Reaktion gespannt. Zumindest der Vorname sollte Wenzel von seinem Auftritt bei der Bürgerinitiative bekannt vorkommen.
»Sollte ich den Namen kennen?«
»Sie könnten sich für ihn interessieren. Ich jedenfalls tue das.« Es musste nicht sein, dass Wenzel den Mann unter diesem Namen kannte, er konnte behördenintern unter einem Decknamen geführt werden, wenn er denn tatsächlich ein V-Mann oder Provokateur war. Aber je mehr Georg darüber nachgedacht hatte, desto mehr gewann er die Überzeugung, dass Manfred »privat« unterwegs war, obwohl ein unterer Dienstgrad wie Wenzel nichts von oberhalb seiner Ebene beschlossenen Maßnahmen wissen musste. Ein kleiner Polizist wie Wenzel wusste nicht einmal, was im Präsidium in Trier ablief und welcher Partei sein oberster Chef angehörte.
Am Freitag machte Georg früh Feierabend. Auf dem kurzen Weg von der Kellerei zu seinem Apartment musste er zwangsläufig am grünen Tor vorbei, Kilian schien ihn abgepasst zu haben.
»Wann kommst du wieder bei uns vorbei?«, fragte der Junge. »Mama würde sich freuen. Sie hat nie Zeit für uns, sie arbeitet nur noch. Vielleicht kannst du ihr helfen?«
Georg musste den Jungen enttäuschen. »Ich muss am Wochenende verreisen, ich habe leider auch keine Zeit. Aber ich komme bestimmt nächste Woche, ich verspreche es.«
»Versprich besser nichts. Wo musst du denn hin?«, fragte Kilian in seiner direkten Art. »Ihr Erwachsenen müsst immer alles, ihr sagt nie, dass ihr es wollt . Alles quält euch nur.«
Seine Spitzfindigkeit, besser die genaue Beobachtungsgabe, gefiel Georg. »Ich muss wirklich verreisen, ich muss nach Hannover, wenn ich meine Kinder sehen will.«
»Ja, das musst du dann wohl. Besuchst du deine Kinder öfter?« Jetzt nahm sein Gesicht einen Ausdruck an, als würde er jemanden in der Ferne suchen. »Mein Vater hat uns nie besucht.« Er drehte sich um und ging wortlos auf die Toreinfahrt zu, dort drehte er sich noch einmal um. »Du kommst wirklich wieder? Versprichst du es mir?«
Georg griff in die Jackentasche, er hatte aus dem Weinberg ein Stück Schiefer mitgenommen, weil es aussah, als wäre darin eine Muschel eingeschlossen. »Hier, nimm das als Pfand!«
Kilian kam zurück, streckte die Hand nach dem Stein aus, betrachtete ihn und schaute auf. »Gut, abgemacht. Montag?« Schnell lief er weg.
»Einverstanden«, rief Georg ihm nach.
Wir tun ihnen ununterbrochen weh, dachte er, wir verletzen sie, enttäuschen sie, belügen sie, bereiten sie schlecht auf das Leben vor und machen die Kinder erst zu dem, worüber wir uns bei anderen beklagen, und er schämte sich. Scham war eines dieser Gefühle, die er zu bewältigen suchte, seit sein Leben in eine unbekannte Richtung driftete. Er hatte sie bis vor einem Jahr nicht gekannt, genauso wenig wie Zweifel, wie den Blick für die Schönheit und Einzigartigkeit der Natur, des Wassers, des Windes, der Sonne. Das alles war ihm in seinem früheren Leben ziemlich gleichgültig gewesen. Die Mosel war ein Fenster, eines nach außen und nach innen, zu sich selbst, das irgendwie aufgestoßen worden war. Und dieser Junge war für ihn das personifizierte schlechte Gewissen. Gleichzeitig freute er sich auf das Wiedersehen und fürchtete sich doch vor der Nähe und davor, ihn zu enttäuschen.
Mit diesen Gedanken packte er das Nötigste für die Reise zusammen. Unterlagen brauchte er nicht mitzunehmen, alle wichtigen Akten, sowohl die zu COS wie die zur Trennung von Miriam und zu ihren Versorgungsansprüchen, lagen beim Anwalt. Für neun Uhr früh waren sie verabredet, also brauchte er nicht vor fünf Uhr aufzubrechen, der Wagen warein Geschoss, leider für Menschen mit seinem Körperbau etwas zu eng, und die Autobahnen waren Samstag früh wahrscheinlich kaum befahren.
Ungesehen hatte er den Audi am Flussufer erreicht. Sein Zeitplan ging auf, er war früher als vorgesehen in Hannover. Im Rausch von Geschwindigkeit und Konzentration waren die unguten Gefühle, die Angst vor dem, was ihm bevorstand, zurückgeblieben. In diesem Fahrzeug hatte er sich keine Sekunde unsicher gefühlt. Er würde es gern richtig ausprobieren, dazu müsste er zum Nürburgring fahren und Gas geben. Das würde er sich irgendwann nach der Rückkehr gönnen, denn dass er an der Leine bleiben würde, hielt er für ausgeschlossen. Außerdem würde ihn diese Branche nicht einmal mehr als Wachhund zum Mindestlohn von 6,53 Euro anstellen. Jetzt, auf einem Parkplatz an
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