Tödlicher Steilhang
hatte von Dr. Loosen gesprochen, als sie ihn nach Graach mitgenommen hatte. Das gleichnamige Weingut lag rechts an der Uferstraße. Wenn er die hiesigen Weine begreifen wollte, müsste er auch dort vorbeischauen, hatte sie ihm geraten. Eine Weinprobe würde ihn auf andere Gedanken bringen, daher hielt er an, um zu fragen, wann er vorbeikommen dürfe.
»Sofort«, meinte eine Frau, die ihn in Empfang nahm. »Die Herren warten, die anderen Weinhändler sind bereits oben bei Herrn Loosen.«
Er wurde ins Haus gewunken und zu einem Raum begleitet, wo sich mehrere Männer an einem großen Tisch über alte Karten beugten.
»Gehen Sie, nun gehen Sie schon!«, ermunterte ihn die Dame, und Georg stolperte vorwärts.
Es waren historische Karten, mehr als einen Meter lang, etwa dreißig Zentimeter hoch und wie ein Leporello gefaltet. Die Karten waren interessant, von Georg nahm außer mit einem kurzen Seitenblick niemand Notiz, weder der Mann auf dem Weg zum Best Ager, mit dunklem lockigem Haar, Jeans und rot kariertem Hemd mit Manschettenknöpfen, der mehr einem Philosophieprofessor glich, sich jedoch durch seine Erklärungen als Inhaber des Weingutes zu erkennen gab, noch die anderen sechs Herren in seinem Alter, locker, gut gelaunt, aber doch konzentriert zuhörend.
Georg wagte einen Blick über die Schultern der Besucher, sie rückten höflich beiseite. Oben lag die Weinbaukarte des Regierungsbezirks Trier, »angefertigt im Jahr 1868 unter der Leitung des Königlichen Kataster Inspectors Steuerrath Clotten«, darunter die »4te im Jahre 1906 veränderte Auflage«.
Bei dem alten Exemplar entdeckte Georg sofort die auch ihm inzwischen bekannten Lagen, besonders die, an deren Fuß sie sich jetzt befanden, und es freute ihn. Die besten Weinlagen waren dunkel eingezeichnet. Es hatte den Anschein, als hätte die Politik sich genau diesen Teil der Mosel ausgesucht, um eine Autobahn mittendurch zu bauen und den Weinbau zu gefährden. Es wurden Lebensbedingungen zerstört, um Wachstum zu erzielen, wie Baxter mit seinen Arbeitsplätzen, dachte Georg, es wird manipuliert, rumprobiert, gestoppelt, und das mit dem Geld derer, die man schädigt.
Ich schweife ab, sagte er sich, ich muss zuhören. Die Männer am Tisch empfand er als seriöse, aufgeschlossene Leute, beileibe keine Angeber, die dem Winzer sagten, wie sein Wein zu schmecken hatte, die damit protzten, wo sie überall probiert hatten, welche Güter sie kannten, was sie alles über Wein wussten und welche grandiosen Weine in ihrem Keller schlummerten. Die Weinhändler stellten hier Fragen, die niemanden interessieren konnten, der mit Wein nichts zu tun hatte.
»Wie ist das Klima hier, wie sind die mikroklimatischen Unterschiede der einzelnen Lagen?« »Was hat sich klimatisch in den letzten Jahren verändert? Welche Weine wachsen auf welchen Böden?« (Hätte es nicht heißen müssen, welche Trauben?) »Wie bauen Sie die Weine aus – im Holzfass oder im Stahl bei kontrollierter Temperatur?« »Arbeiten Sie mit Reinzuchthefe, oder lassen Sie den Wein spontan vergären?« »Welche Vorteile hat das?« »Bei welchen Weinen entscheiden Sie sich für einen biologischen Säureabbau?«
Ernst Loosen beantwortete die Fragen so, dass auch Georg mit dem Gesagten etwas anfangen konnte. Er konnte die meisten Antworten zumindest einordnen und wusste, wovon gesprochen wurde. Noch vor drei Wochen hatte er nicht den geringsten Schimmer davon gehabt.
Da war der Ürziger Würzgarten, bei dem er natürlich an Menges dachte, als er die Beschreibung des Weins als wuchtig, erdig, intensiv mit würzigen Aromen tropischer Früchte hörte. Der Riesling vom Graacher Himmelreich war eigentlich noch zu jung, noch »flaschenkrank«, noch nicht weit genug entwickelt, um ihn zu beurteilen, was einen anderen Händler auf ein Alterungspotenzial von Jahrzehnten schließen ließ. Den Erdener Prälat mit einem weiß gekleideten Mönch auf dem altmodischen Etikett, eine Auslese, empfand Georg als enorm gehaltvoll und fruchtig, und er spürte dem Geschmack im Mund so lange nach, dass er nur die letzten Worte eines Kommentars mitbekam, der ihn als cremig pries. Cremig – ein Wein?
Der Riesling von der Wehlener Sonnenuhr gefiel ihm am besten, Georg empfand ihn als grandios, er konnte ihn nicht beschreiben, während ein Kölner Händler sowohl Birne wie auch Limone entdeckte und dem perfekt ausbalancierten Wein eine knackige Säure bescheinigte. Auch am einfachsten Wein des Gutes, dem trockenen Dr. Loosen
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