Toedlicher Sumpf
da war, aber auch nicht, dass ich nicht da war. Bin ständig unterwegs, verstehen Sie? Hab Sachen zu erledigen. Mal hier, mal dort ...«
»Sind Sie meiner Freundin und mir gefolgt?«
Meine Mutter runzelt die Stirn und sieht mich fragend an. Das Gelächter, in das Lanusse jetzt ausbricht, klingt ziemlich echt. Ich suche den Blick meiner Mutter und schüttele den Kopf. Kein Grund zur Sorge.
»Gefolgt? Dummes Zeug, meine Liebe. Das ist nicht mein Stil.« Aber ich weiß natürlich, dass es das sehr wohl ist. Meine Mutter schaut mich beunruhigt an. Ich lenke sie an einer dicken Baumwurzel vorbei. Eigentlich ist es gut so: Jetzt weiß ich, dass er überzeugend lügen kann. »Was ist los, chère ? Sehen Sie Gespenster, jetzt, da Sie mit uns bösen Wölfen reden?«
Ich gehe nicht darauf ein. »Wann haben Sie Zeit für ein Treffen?«
»Am fünfzehnten habe ich nachmittags Zeit. Das ist ein Dienstag.«
»Aber das ist noch über eine Woche hin.«
»Was soll ich sagen? Ich bin ein viel beschäftigter Mann.«
Beschäftigt – womit? Damit, mit dem Fernglas am Fenster zu stehen? Damit, Kindern nachzusteigen? Er hat keinen Job. Ich zwinge mich zur Ruhe. Dauerbrenner , hat Bailey gesagt. Keine Deadline .
»Das geht«, antworte ich. »Um wie viel Uhr würde es Ihnen denn passen?«
»Wie wär’s um zwei?«
»Wie wär’s halb drei?« Ich möchte da sein, wenn die Mädchen aus der Schule kommen – einfach um zu sehen, was er dann tut.
»Ja, in Ordnung.«
»Dann bin ich an dem Tag um halb drei da, Mr. Lanusse; ich weiß Ihre Kooperationsbereitschaft zu schätzen.« Wir haben den großen zementierten Vorplatz der Kirche erreicht, und meine Mutter begrüßt Bekannte aus der Gemeinde, die bereits die Treppe zum hölzernen Portal hinaufgehen. Sie bedenkt mich mit einem strengen Blick, der sagt, ich solle endlich auflegen und mich wie eine gute Christin benehmen.
Plötzlich klingt Lanusse ganz anders: durchtrieben, scheinheilig. »Sie mögen’s jung, was?«
Ich erstarre. »Wie bitte?«
»Ihre kleine Freundin. Für eine Freundin von Ihnen sieht sie ganz schön jung aus. Scheint so, als hätten wir zwei was gemeinsam.«
Meine Mutter ist die Treppe schon hochgegangen. Sie steht neben der Kirchentür und schaut ungeduldig zu mir herunter. Ich bin außer mir, werde aber nicht laut. »Das ist widerlich. Mit Ihnen habe ich nichts gemeinsam, gar nichts.«
»Das ist New Orleans, Süße. Widerliches wird hier gekocht und gegessen.«
»Sie halten sich von dem Mädchen fern, hören Sie? Und von mir.«
Sein Lachen gellt mir im Ohr. »Ich bin nicht hinter Ihnen her, chère . Sie sind diejenige, die hinter mir her ist.«
Sonntag. Tag des Müßiggangs, der Kontemplation. Ich hocke neben meiner Mutter in der Kirchenbank und sollte Gedanken über Weisheit, Frieden und Mitgefühl nachhängen. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht konzentrieren – nicht nach dem Anruf von Blake Lanusse. Was der Priester von Liebe und Harmonie predigt, prallt an mir ab.
Stattdessen denke ich über Wasser nach.
Als der Priester darüber spricht, wie Jesus die Wellen besänftigt hat und übers Wasser gegangen ist, wird mir bewusst, dass Flutwellen nicht nur Menschen vernichten, sondern auch Geschichten, Wissen, Kultur. In einer zerstörten Stadt fallen nicht nur die aufgedunsenen, nach Verwesung riechenden Leichname auf, sondern auch die entsetzliche Stille.
New Orleans hat seine Horrorgeschichte, aber es war nicht die erste Stadt, der so etwas widerfahren ist. Das grüne, wohlhabende Bagdad des frühen 13. Jahrhunderts fällt mir ein, das 1258 die Mongolen verwüsteten, indem sie es belagerten, das komplexe Bewässerungssystem der Sumerer zerstörten,dadurch die Stadt überfluteten und Schriftrollen in den Fluss warfen, bis die Tinte den Tigris schwarz färbte und das Wissen über die Bewässerungsanlagen vernichtet war. Ich denke an die hoch entwickelte Kultur der Marsch-Araber, die selbst Saddam Husseins Regime widerstanden hat – bis in den 1990er-Jahren seine Soldaten das Sumpfland austrockneten, die Vegetation niederbrannten, Menschen ermordeten und Tausende Quadratkilometer Land verwüsteten. Ich denke an die Zerstörung von Sumpfgebieten in Louisiana, an Bohrstationen im Golf, an Dürreeinbrüche, Tsunamis und biblische Fluten.
Kürzlich habe ich irgendwo gelesen, dass ein Ölmilliardär angefangen hat, rund um den Planeten Wasserreserven aufzukaufen, und nur darauf wartet, dass er an der Verzweiflung durstender Menschen seine
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