Toedlicher Sumpf
keine Palmen, keine Zypressen, keine alten Eichen voller Spanischem Moos. In den Dünen steht ein gelbes Haus mit Duschen. Ich raffe meine neuen Besitztümer zusammen und mache mich auf den Weg zur Damentoilette.
In meine knallbunten neuen Sachen gehüllt, trete ich wieder ins Freie und gehe über die Holzrampe auf die riesige, leuchtend blaue Wasserfläche zu. Unten steht ein Schild mit der Aufschrift: UNBEWACHTER STRAND. STARKE STRÖMUNGEN. BADEN AUF EIGENE GEFAHR.
Ich wende mich nach rechts und gehe an der Wasserlinie entlang. Der Sand ist bräunlich, gesprenkelt mit angespülten Abfällen, morschen Holzstückchen und Tang. Liegt da eine mit Wasser vollgesogene Zwiebel? Das hier hat nichts mit dem weißen Zuckersand zu tun, den ich mir vorgestellt habe. Kleine Muscheln zerbrechen unter meinen Füßen; Krabben flitzen – auf der Flucht vor mir – über den Strand und verschwinden, sobald ich mich nähere, in kleinen Löchern. Am Himmel gleitet ein Pontonflugzeug dahin. Ich komme an einem Schild vorbei, auf dem steht: ACHTUNG, PETROLEUM-PIPELINE – NICHT GRABEN ODER ANKERN. Am Horizont hocken wie große schwarze Legosteine Bohrinseln.
Der Roman, den wir an der Tulane lesen mussten, Das Erwachen , handelt von einer Frau in der viktorianischen Zeit. Um sie vom stickigen New Orleans zu erlösen, bringt ihr Mann sie in ein schönes Sommerdomizil auf Grand Isle. Das viele Im-Sand-Liegen aber kostet Edna Pontellier die innere Ruhe. Sie hat Zeit zum Nachdenken und kommt zu dem Schluss, dass ihr geordnetes, konventionelles Oberschicht-Leben langweilig ist wie der Tod. Sie will es prickelnder. Sie will mehr.
So fängt sie an zu experimentieren. Zurück in der Stadt, zieht sie zu Hause aus, nimmt sich einen Liebhaber und hat ganz ohne Gewissensbisse heißen Sex – was das Buch nur subtil andeutet, immerhin herrschen viktorianische Verhältnisse –, und sie widmet sich irgendeiner Art von Kunst: der Malerei, dem Cellospiel, etwas in der Art.
Während die Gesellschaft von New Orleans sich auf den Skandal stürzt, lebt Edna P. als unabhängige, sexuell befriedigte, angehende Künstlerin und ist ihrer Zeit damit weit voraus – wobei sie es aber schwer hat, mit dieser neuen Lebensform in der sie umgebenden Welt Fuß zu fassen.
Sie findet keinen Ausweg. Es gelingt ihr nicht, ihre Wünsche und Bedürfnisse mit den gesellschaftlichen Normen in Einklang zu bringen. In der Schlussszene des Buches ist Ednawieder auf Grand Isle – diesmal ist sie allein, und sie schwimmt in den Golf hinaus. Weiter und immer weiter.
Und das ist das Ende. Sie ertrinkt.
Im Seminar waren wir deswegen ziemlich angefressen, denn einige von uns hatten die gute Edna mit ihrer sexy Unerschrockenheit und unkonventionellen Art ins Herz geschlossen. Sie sollte leben! Aber die Professorin hielt dazu einen langen, gewundenen Vortrag, in dem sie erklärte, Ednas Selbstmord sei in Wahrheit ein Akt des Protests gegen das in sich geschlossene patriarchalische System jener Zeit, das ihr nicht gestattet hatte, ihre Bedürfnisse auszuleben. Und so weiter. Überdies, fuhr sie fort, sei das Schreiben dieser Geschichte – die Leserinnen mit der Schilderung von Ednas Notlage dazu brachte, dieses System verändern zu wollen – erst recht ein Akt des feministischen Protests gewesen, weshalb wir Kate Chopin danken sollten, der Verfasserin, die uns einen solchen Denkanstoß und eine so großartige Anregung geliefert habe.
Als ich aber für meine Seminararbeit noch weiterlas, fand ich heraus, dass Kate Chopin seit dem Erscheinen des Buches im Jahr 1899 geächtet war. Das Buch war als unmoralisch verunglimpft worden. Chopin konnte ihren guten Ruf als Schriftstellerin nie wiedererlangen. Sie verlor ihr gesellschaftliches Ansehen und starb als Ausgestoßene – und das, obwohl sie weiß war und reich. Das Erwachen wurde erst wieder aufgelegt, als Wissenschaftlerinnen es in den 1970er-Jahren neu entdeckten.
Also weniger eine Anregung, folgerte ich in meiner Arbeit, als vielmehr eine Geschichte zur Abschreckung. Die Gelehrten in ihren Elfenbeintürmen seien davon vielleicht angetan, in den Niederungen der realen Welt aber sei es gefährlich, eine bestimmte Art von Geschichte zu erzählen. – Wie ich selbst gerade nur allzu deutlich erfahre.
Ich habe für die Arbeit eine Zwei bekommen. Ärgert mich noch heute.
Lange gehe ich so, mein Zeug als Bündel unter dem Arm, dann jogge ich weiter, bis alle Muskeln gelockert sind und Leck mich, Bailey zu einem schwachen inneren
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