Toedlicher Sumpf
geisteswissenschaftlichen Newcomb College der Tulane University Grundlagen des Journalismus unterrichtet, als ich noch nicht einmal auf der Welt war. Ich habe ihn als großen, sehr schlanken Mann schon beinahe im Ruhestandsalter kennengelernt. Mit seinem hageren Gesicht, den Guayabera-Hemden mit den vier aufgesetzten Taschen und dem cremefarbenen Panamahut sah er aus wie eine Inkarnation des gesamten Buena Vista Social Club. Bevor ich in seine Veranstaltung ging, habe ich – wie alle anderen – über ihn gelacht und ihn den Colonel genannt. Aber seine Seminare erwiesen sich als in mehrfacher Hinsicht lehrreich für mich. Ich habe bald aufgehört zu lachen und stattdessen angefangen mitzuschreiben.
Als Fidel Castro 1959 an die Macht kam, war Tómas Guillory gerade mal einundzwanzig. Er lebte als einziger Sohn eines Weißen – eines Briten – und einer afrokubanischen Mutter in Havanna. Er war Nachwuchsreporter bei El Mundo und hatte durchaus selbst sozialistische Tendenzen, aber er erkannte schnell, woher der Wind wehte. Von seinem Vater, der ebenfalls Journalist war – und die London Times im Zorn verlassen hatte, weil dort Meldungen über einen Skandal bei den Royals unterdrückt worden waren –, hatte er die Überzeugung übernommen, dass die Pressefreiheit das höchste Gut sei. Die Kommunisten teilten diese Überzeugung bedauerlicherweise nicht.
Seine Eltern drängten sich in einen Flieger nach London,wo seine Mutter in der kalten U-Bahn zwischen all den großen, kühlen Leuten buchstäblich einging, und Tómas floh nach New York, wo er sich im East Village niederließ, für die Village Voice schrieb und seine lebenslang andauernde Liebesbeziehung mit der New York Times anfing – bei der er letztlich nie eingestellt wurde, die ihm aber bis heute jeden Morgen auf die Veranda seines kreolischen Hauses im Faubourg Marigny gebracht wird. 1980, als das Angebot der Tulane University, hier Journalismus zu lehren, und die Verlockung der karibischen Hitze schwerer wogen als sein ewig jugendlicher Drang, sich im Mittelpunkt des bekannten Universums aufzuhalten, kam er hierher.
Professor Guillory hat mir beigebracht, mich von stereotypen Vorstellungen zu verabschieden. Er mochte unendlich gebildet sein, reich an Erfahrung, eine absolute Autorität, er mochte in den Sechzigern und Siebzigern für die Village Voice über Ereignisse berichtet haben, die wir nur aus Dokumentationen des Public Broadcasting Service kannten, aber er war stets aufmerksam, nachdenklich und respektvoll – nicht nur gegenüber seinen Vorgesetzten an der Universität, nicht nur gegenüber Studenten, die dort das Geld ihrer Eltern hintrugen, nein, jedem gegenüber. Für Professor Guillory zählte jeder. Jeder war interessant, jeder hatte eine Geschichte, die anzuhören sich lohnte – wenn man nur genügend Aufmerksamkeit dafür aufbrachte.
Er lehrte uns, in unserer Arbeit eine klare, neutrale Haltung einzunehmen. In Sachen Satzbau war er ein Pedant; The Elements of Style von Strunk und White kannte er praktisch auswendig, und eine seiner Lehrveranstaltungen lief so ab, dass er mit dem Overheadprojektor Texte aus der New York Times und der Times-Picayune an die Wand warf und dann systematisch auseinandernahm. Die Verehrung für die Graue Lady New York Times habe ich ebenso von Professor Guillory übernommen wie die Verachtung für die Times-Picayune . Natürlich hat er sich dabei nie im Ton vergriffen. »Nie würdeich«, sagte er beispielsweise, »die Arbeit unserer Kollegen hier leichtfertig diskreditieren.« Um dann das jeweilige Stück in seine jämmerlichen Einzelteile zu zerpflücken.
Am meisten nahm mich für ihn ein, dass er immer wieder gegen rassistische und sexistische Vorurteile wetterte. Außerdem betrachtete er seine Studenten als Individuen und brachte ihnen Interesse entgegen. Es war ihm nicht gleichgültig, worüber wir arbeiteten und welchen Hintergrund wir hatten. Ich hatte erst wenige seiner Veranstaltungen besucht, da rief er mir eines Tages nach dem Seminar zu: » ¿Eres de Cuba? «
Ich drehte mich um. Es dauerte einen Moment, bis die Frage sich in meinem Kopf selbst übersetzte, aber dann nickte ich langsam. Und empfand eine schüchterne Freude, die sich wohl auch in meinem Gesicht spiegelte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ein Fremder mich als das erkannt, was ich war, und das war ein überraschend angenehmes Gefühl.
»Meine Mutter, ja. Woran haben Sie das gemerkt?«
Er lächelte und zuckte die Achseln. »Nur
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