Toedlicher Sumpf
und flehentlichen Bitten fanden dort ihren Platz, so auch die blassrosa Babysöckchen, die meine Mutter gehäkelt und der Jungfrau gewidmet hatte in der Hoffnung, eines Tages mit einem kleinen Mädchen gesegnet zu sein, das sie lieben und versorgen könnte, und zwar möglichst weit weg von den Zuckerrohrfeldern, auf denen sie ihre eigenen Eltern an Lungenkrebs, Überarbeitung und chronischer Unterernährung hatte sterben sehen. Amen. So hat meine Mutter vor der Jungfrau der Wohltätigkeit gekniet und ihr ihre Gebete zugeflüstert.
Wohltätigkeit. Ursprünglich war das viel mehr als das, was wir heute so kleinkariert darunter verstehen: Wohltätigkeit hieß nicht nur, das, was übrig bleibt, den Bedürftigen zu überlassen. Caridad , das ist liebevolle Zugewandtheit. Liebe undFürsorge für alle; für Fremde; für die drei Sklaven, die mit ihrem Boot in einen Sturm geraten.
Wer rettet uns? Woher kommt die Kraft? Hat die Jungfrau das Boot vor dem Sturm bewahrt, oder haben die Männer ihren hölzernen Leib aus dem Wasser geborgen?
Ich bete zur Jungfrau der Wohltätigkeit. Mit ihrer göttlichen Gnade kann ich mich nicht messen, nicht im Ansatz. Aber ich kann verehren, wofür sie steht. Tropfend erhebe ich mich aus dem Wasser.
Nur in ein Handtuch gewickelt, lege ich mir meine Sachen für morgen zurecht. Saubere Klamotten: flache Schuhe, weiße Hose, anthrazitfarbenes Top.
Meine gepackte Handtasche, den Ordner mit der dicken Akte.
Dann schalte ich die Lokalnachrichten ein. Präsident Bush pflanzt heute – am Tag der Erde – am Lafayette Square einen Baum. Typisch Bush: hohle Geste, Mission erfüllt. Es gibt Leute, die argwöhnen, dass er hinter den Kulissen ganz anders kungelt, denn durchaus nicht alle in New Orleans sind unglücklich über die Folgen von Katrina. Seit dem Sturm hat sich die Anzahl der Leute in der Stadt, die Anspruch auf Lebensmittelgutscheine hatten, um 51 Prozent verringert; die Sozialausgaben sind um 73 Prozent gesunken. Wir alle wissen noch, was Barbara Bush von sich gegeben hat. Sie hat den Houston Astrodome besucht, wo unzählige obdach- und mittellose Evakuierte vorübergehend untergebracht waren, und anschließend unbekümmert erklärt, den Leuten sei es ja vor dem Sturm schon nicht gut gegangen, die seien jetzt viel besser dran.
Es wird ein Filmchen von Präsident Bush gezeigt, wie er einen Tanz hinlegt und anschließend der Stadt New Orleans dankt für die guten Zeiten, die er als junger, feierfreudiger Mann hier hatte. Eine Besichtigungstour durch diese Stadt, die an so vielen Stellen zu kämpfen hat, steht nicht auf seinem Programm. Ich muss an Engels denken und seine Schilderung derKutschen reicher Leute, die durch die großen Einkaufsstraßen von London rollten. An die Boutiquen in der Magazine Street. An George Anderson zwischen all den Kunstwerken in seiner klimatisierten Villa: Ich bin nicht für alle Kinder verantwortlich, die jemals in Amerika begrapscht worden sind. Ich muss an Moss Manors denken, wo sie die Sklavenunterkünfte einfach abgerissen haben. An Patrick Kennedy, wie er seiner Stieftochter die Augen zuhielt.
Gerechtigkeit heißt: die Augenbinde ablegen, Verantwortung übernehmen. Es geht darum, künftigen Schaden abzuwenden. Die Geschichte in die richtigen Bahnen zu lenken.
Plötzlich flimmert eine aktuelle Meldung über den Fernsehschirm. »Wieder ist heute Morgen im French Quarter ein junges Mädchen spurlos verschwunden«, verkündet der Sprecher. Die sechzehnjährige Marisa Nicoletti, im ersten Jahr an der Schule des Ursulinerinnenklosters, ist um 7.30 Uhr zu Fuß von zu Hause weggegangen und nie in der Schule angekommen. Ihr Bild wird gezeigt: dunkle Locken, dunkle Augen. Eine jüngere Ausgabe von Amber Waybridge. Als die Mutter ins Bild kommt und zu ihrem Hilferuf anhebt, stelle ich auf lautlos und greife nach dem Telefon.
»Siehst du das?«
»Wir sind gerade eingeschaltet worden«, sagt Calinda. »Wir sind dran, glaub mir.«
»Die gleiche Tageszeit, dieselbe Gegend ...«
»Ich weiß. Sie sieht dem vorigen Opfer sogar ähnlich.«
»Es sind noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen.«
»Ich weiß, aber unter den gegebenen Umständen ...«
»Lieber auf Nummer sicher gehen«, sage ich.
»Genau.«
Auf dem Bildschirm ringt die verzweifelte Mutter die Hände.
»Ich muss auflegen«, sage ich. »Halt mich auf dem Laufenden.«
Dann stehe ich reglos im Wohnzimmer. Es ist still. Zu hörenist nur mein Atmen. Schließlich suche ich eine andere Nummer in
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