Toedlicher Sumpf
mich in Richtung Tür. Doch dann sehe ich Claire an ihrem Platz sitzen und mich beobachten.
Ich gehe zu ihr hinüber und spüre schon von weitem, wie sie sich wappnet. Es sind bereits einige Kollegen aus dem Ressort da, und ich spreche mit Bedacht laut genug, dass sie mich hören können.
»Hallo, Claire. Ich hab mich in letzter Zeit ziemlich danebenbenommen. Das tut mir leid.« Sie reißt die Augen auf. »Ich hatte einiges um die Ohren, aber das ist keine Entschuldigung. Es tut mir leid.« So, wie ich stehe und von oben auf sie herunterschaue, sehe ich zu beiden Seiten ihres Scheitels einen schmalen, verräterischen weißen Streifen. Ich verspüre so etwas wie Mitleid. Mein eigenes Haar wächst schnell; würde ich grau, müsste ich jede Woche nachfärben, um mein glänzendes Dunkelbraun zu behalten. Und was heißt »würde«? Irgendwann werde ich, sollte ich Glück haben und lange genug leben, in ihrer Haut stecken. Diese Einsicht macht meinen Ton sanfter, aber ich spreche trotzdem so weiter, dass alle michhören können. Wir haben Zeit, Korrekturen vorzunehmen. »Hör zu, Claire. Ich weiß, dass ich keine zweite Chance verdient habe und dass du mir keine schuldest. Aber ich würde trotzdem gern versuchen, weiter mit dir zusammenzuarbeiten. Wenn du einverstanden bist.«
Ihre Kinnlade klappt eine Winzigkeit herunter. Sie schiebt ihren Stuhl zurück, steht auf und streckt mir eine Hand entgegen, die ich nehme und drücke. Auf ihrem Gesicht erscheint die schwache Andeutung eines Lächelns.
»Du Nuss«, sagt sie. »Das überrascht mich jetzt wirklich.« Ihr Lächeln wird breiter. »Und? Alles auf Anfang?« Wir wissen beide, dass wir beobachtet werden.
»Ja, Ma’am. Danke. Vielen Dank.«
»Gut, Nola«, sagt sie. »Du hast es richtig gemacht. Ach, und Nola?«
»Ja?«
»Nenn mich nicht Ma’am.«
Auf dem Weg zum Auto geht mir durch den Kopf, dass kein Kind, und schon gar nicht meine Kleine Schwester, heranwachsen sollte, ohne einmal Angelo Brocatos italienische Feigen-Cookies gegessen zu haben, ein New-Orleans-Klassiker. Also fahre ich nach Carrollton, zwischen Iberville und Bienville, und finde tatsächlich direkt vor dem Laden einen Parkplatz. Seit vor über hundert Jahren die große Welle sizilianischer Einwanderer nach New Orleans gespült wurde, ist der Laden von Angelo Brocato eine Institution. In großen Vitrinen stehen dort Tabletts voller Gebäck neben den Behältern mit gelato . Hohe Decke, pfirsichfarbene Wände, zierliche Tische und Stühle: Hier sieht es aus – und riecht – wie in einer altmodischen Eisdiele. Und zugleich wirkt alles frisch und neu und befangen, so als sei die Renovierung nach Katrina eben erst abgeschlossen. Ich nehme eine Tüte Feigen-Cookies für Marisol und bitte das Mädchen hinter dem Tresen, mir ein frisches Anis-Teilchen separat einzupacken – für mi mamá .
Inzwischen habe ich Hunger. Ich lasse das Auto stehen und gehe eine Ecke weiter, ins »Venezia«, ein anderes alteingesessenes italienisches Lokal, wo die gelben Wände eine Herausforderung für die Augen sind und die Wirtin, eine ältere Frau mit kreisrunden Rougeflecken auf den Wangen, mich an einem Tisch in der Ecke platziert. Die Gäste, alle mittleren Alters, reden mit gedämpfter Stimme. Ich bestelle eine »Aubergine Vatikan« und spiele, während ich warte, geistesabwesend mit meinem Besteck. Dann schaue ich auf mein Handy. Fabi ist es nicht mehr ganz so dringend; sie hat nur eine Nachricht hinterlassen: »Ruf an!« Bento hat sich noch einmal wegen Freitagabend gemeldet. Ich rufe zurück, aber er geht zum Glück nicht dran.
»Hallo, hier ist Nola. Hör zu. Ja, okay. Denke ich. Ich meine, das wäre schön. Essen gehen mit dir. Am Freitag, meine ich. Ruf mich noch mal an und sag, wann und wo und so weiter.«
Souverän, Nola. Das war wirklich absolut souverän. Ich lege auf und sitze eine Weile einfach nur da, behalte das Handy in der Hand, nippe Eistee und warte auf die Aubergine mit Krebsfleisch, Garnelen und Crawfish. Irgendwann scrolle ich durch die Anruflisten. Zuletzt gewählte Nummern. Shiduri Collins. Ich drücke auf Anrufen.
»Praxis Dr. Collins?«
Das ist nicht sie, die Stimme kommt mir nicht bekannt vor, und eine Empfangsdame habe ich nicht gesehen. »Ist dort Dr. Collins?«
»Nein, ich kümmere mich nur um ihr Telefon.« Klingt wie ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz. Und Kätzchen zu Hause. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich glaube nicht.« Ich räuspere mich. Hole tief Luft. »Ich meine,
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