Toedlicher Sumpf
dominanten Vater aufgewachsen. Bei Vergewaltigern, die als Kind miterleben mussten, wie ihre Mutter missbraucht und misshandelt wurde, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie erneut straffällig werden, größer.«
»Das ist erstaunlich.«
»Wenn Sie bedenken, welche Rolle die Wut in der Psyche des Vergewaltigers spielt, nicht wirklich.« Er räuspert sich, und ob ich will oder nicht, fällt mir seine makellos rasierte Haut auf. »Das gilt zumindest für die beiden gefährlicheren Typen von Vergewaltigern.«
»Es gibt mehrere Kategorien?«
»Aber ja. Normalerweise ordnen wir Vergewaltiger einer von drei Gruppen zu, die sich nach der Schwere der jeweiligen Vergehen unterscheiden. Dem Gelegenheitsvergewaltiger – dem am wenigsten gefährlichen Typ – mangelt es an Empathie; ihn treibt allein der Wunsch nach Sex: Er will Sex, und zwar sofort. Viele dieser Täter trinken oder konsumieren andere Drogen, um ihre sozialen Hemmungen zu überwinden, und in der Regel suchen sie ihr Opfer in einer Umgebung, in der auch Frauen Drogen missbrauchen.«
»Das klingt wie aus dem Lehrbuch.«
»Aha. Ja.« Einen Moment lang mustert er mich, dann fährt er fort. »Der Gelegenheitsvergewaltiger setzt Gewalt ein, fallses ihm nötig erscheint, aber sie ist nicht sein eigentliches Ziel. Dagegen liegt bei den beiden anderen Tätertypen der Schlüssel zum Verständnis in der Gewalt, denn ihnen geht es vor allem darum zu beherrschen, zu verletzen und Kontrolle auszuüben. Zornige Vergewaltiger, wie wir sie nennen, berichten, dass sie während der Stunden vor der Tat massive Wut auf Frauen empfunden haben und – in vielen Fällen – von Rachsucht getrieben waren. Dabei haben sie es nicht auf einen bestimmten Typ Frau abgesehen; ihnen ist jede recht. Gesteuert von ihrer Wut, schlagen sie ohne Vorwarnung zu, wobei es ihnen darum geht, die jeweilige Frau seelisch und physisch zu verletzen, oft indem sie sie schlagen.«
»Ist es bei dieser Sorte Täter wahrscheinlich, dass sie ihr Opfer töten?«
»Es ist nicht typisch, kommt aber vor. Solche Täter haben schon Frauen erstochen. Bei der gefährlichsten Kategorie von Vergewaltigern allerdings, den sadistischen, ist eher damit zu rechnen. Diesen Tätern geht es um absolute Kontrolle. Sie können alles minutiös planen, vom Typ des Opfers über den Ort, von dem sie es entführen, bis hin zu dem äußeren Rahmen, in dem sie es isolieren, vergewaltigen und nicht selten auch foltern.« Er meidet meinen Blick. »Diesen Tätern gefällt es, die Geschlechtsmerkmale ihrer Opfer zu verstümmeln. Und die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Tat mit Mord endet, ist hoch.«
Ich nicke und schreibe mit. »Fahren Sie fort.«
»Wichtig ist noch zu erwähnen, dass Serientäter dazu neigen, in der Selektion der Szenerie eine hohe Konsistenz zu demonstrieren.«
Ich sehe auf. »Und das heißt?«
»Ein solcher Täter bemächtigt sich seines Opfers gern an einer ihm vertrauten Stelle – an einer bestimmten Straße etwa, in einem Gebäude oder Park. Dann bringt er es an einen mit Bedacht ausgewählten Ort – zu sich nach Hause oder in andere Räumlichkeiten, zu denen er Zugang hat. An einen Ort jedenfalls,an dem er sich sicher fühlt, wo er Macht und totale Kontrolle ausüben kann.«
»Wo er, wie er meint, tun kann, was ihm gefällt.«
»Genau. Wo kein Opfer jemals hinwill, das ist die Wohnung eines Vergewaltigers.«
Ich halte im Schreiben inne. Die Wohnung eines Vergewaltigers . Ich muss an Amber Waybridge denken und frage mich, wo sie sein mag. Diese Entführung geht mir nicht aus dem Sinn, vielleicht weil das Opfer so eine irritierende Ähnlichkeit mit mir hat. »Ich würde gern einen konkreten Fall ansprechen, Dr. Letley. Haben Sie gehört, dass im French Quarter eine Touristin entführt worden ist?«
Vermutlich müssen Experten behaupten, sie wüssten alles – er nickt jedenfalls, aber sein Blick bleibt vage.
Um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, ziehe ich den Flyer aus der Tasche und breite ihn vor ihm auf dem Tisch aus. Während Dr. Letley sich vorbeugt, um den Zettel zu studieren, kommen mir Zweifel. Warum tue ich das? Für den Fall Amber Waybridge bin ich in keiner Weise zuständig, weder im Rahmen meiner Story noch im Rahmen des Jobs. Bailey hat längst ein paar Leute aus der Lokalredaktion darauf angesetzt. Was geht’s mich an? Was hat eine weiße Touristin aus Kansas mit mir zu tun?
»Ach ja.« Wieder nickt er. »Das war Thema in den Nachrichten. Ziemlich aktuell, glaube
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