Tödliches Abseits (German Edition)
Prüfung zwar im ersten Anlauf bestanden und durfte sich nun Assessor der Rechte nennen, seine Gesamtnote war jedoch dermaßen miserabel, dass er sich auf eine Anstellung im Staatsdienst oder in großen Firmen und Anwaltskanzleien keine Hoffnung machen durfte.
Also hatte er sich zur Selbstständigkeit entschlossen, wohl wissend, dass Tausende von Juraabsolventen einen ähnlichen Weg einschlugen. Rainer war der nur schwer zu widerlegenden Argumentation seines Freundes gefolgt. Der hatte anhand eines von ihm selbst erfundenen ›Anwalts-Einwohner-Quotienten‹ – kurz AEQ – ermittelt, dass der Herner Stadtteil Horsthausen den idealen Praxisstandort darstellte. Also hatte sich Rainer Praxisräume auf der Castroper Straße gesucht. In dieser Gegend, meinte Cengiz, gäbe es ausreichend viele Bürger und kaum Anwälte. Letzteres mochte zwar stimmen, aber anscheinend waren die Einwohner dieser Gegend auf Grund des überzeugend niedrigen AEQ dermaßen anwaltsresistent geworden, dass Rainer seit der Eröffnung seiner Praxis vor zwei Monaten erst vier Mandanten gehabt hatte: eine Scheidungsangelegenheit mittelloser Studienfreunde, eine Bußgeldsache wegen Geschwindigkeitsübertretung und zwei Verkehrsunfälle, wobei der lukrativere von beiden – Totalschaden eines aufgemotzten Mercedes – von einem Mann verursacht worden war, der so aussah, wie Rainer sich einen Zuhälter vorstellte. Da dieser Kerl nicht rechtsschutzversichert war, hatte Esch nicht ganz unbegründete Zweifel daran, dass er sein Honorar jemals bekommen würde.
Außerdem wäre es, folgte man Cengiz’ Argumentation, nur logisch gewesen, eine Praxis in den Karpaten einzurichten, da dort, mangels irgendeines Anwalts, der AEQ schlicht überwältigend sein musste. Insofern plagten Rainer von Zeit zu Zeit gewisse Zweifel, dass ein zwar nicht in Anatolien, sondern in Deutschland geborener Türke wirklich der richtige Ratgeber in dieser Frage gewesen war, die letztlich seine Zukunft entschied. Da aber andererseits Cengiz auch sein bester Freund war, behielt Rainer seine Bedenken für sich.
Seine Praxisräume lagen im Erdgeschoss eines Hauses, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Früher hatte in den Räumlichkeiten bis zu ihrem vollständigen Konkurs eine Änderungsschneiderei residiert, davor ein Reisebüro, dessen Reisekataloge, die Rainer beim Aufräumen im Keller gefunden hatte, in wenigen Jahren sicher einen gewissen antiquarischen Wert besitzen würden.
Rainers Büro bestand aus einem ehemaligen Verkaufsraum mit der noch erhalten gebliebenen Schaufensterscheibe und einem Hinterzimmer, das beiden Vorgängergeschäften anscheinend als Lager gedient hatte, jetzt aber das Arbeitszimmer des Anwalts beherbergte. Der frühere Verkaufsraum war nun als Warteraum und Schreibbüro vorgesehen, allerdings fehlte noch der Schreibplatz für eine Sekretärin. Das war nicht weiter tragisch, da Rainer derzeit auch noch über keine Sekretärin verfügte, sondern sich für den Fall seiner überaus seltenen Abwesenheit innerhalb der normalen Bürozeiten auf Anrufbeantworter, Faxgerät und die Geduld seiner Mandanten verließ. Wenn der günstige AEQ sich nicht bald belebend auswirken würde, würde Rainer an diesem Zustand in absehbarer Zeit auch nichts ändern können.
Sein Arbeitszimmer schmückten ein neuer Schreibtisch, auf dem sein Computer stand, ein alter Chefsessel und zwei schwarze Lederfreischwinger. An den Wänden befanden sich schwarz furnierte Regale, die Rainers spärliche juristische Literatur und die imposanten Mandantenakten enthielten.
In der Hoffnung auf ganze Heerscharen von Rechtsuchenden und um die Zeit totzuschlagen, hatte er bereits für jeden Buchstaben des Alphabetes, mit dem die Nachnamen seiner potenziellen Kunden beginnen könnten, einen Ordner angelegt, so dass jetzt schon etwa drei Meter Ordner zu besichtigen waren, die nur zwei Zentimeter Akten enthielten.
Im hinteren Bereich seiner Büroräume gab es noch einen Toilettenraum und eine Küche, die er mit dem Sperrmüll aus seiner früheren Detektei möbliert hatte.
An der Hauswand hatte Rainer mit Cengiz’ Hilfe ein weiß emailliertes Schild in den Abmessungen 50 mal 70 Zentimetern mit einem Silberrand und schwarzen Buchstaben angebracht, auf dem zu lesen war: Rainer Esch. Darunter stand: Rechtsanwalt . Und wieder darunter: Sprechstunden Mo–Fr 9.00–12.00 und 14.00–18.00 a. Mi.
Nachdem sie das Schild aufgehängt hatten und Cengiz gegangen war, hatte Rainer seine Praxisräume
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