Tödliches Abseits (German Edition)
Spielen nachzugehen.
An einem sonnigen Nachmittag, er durfte wieder mitspielen und Hubert nicht, kam es zu einem Pressschlag zwischen zwei Fußballern. Sein Lederball flog Richtung Zaun, kullerte durch das Loch, rollte die Böschung hinunter und blieb einen Moment an einem der Büsche hängen, um dann zum Entsetzen der Spieler in die Emscher zu fallen und auf Nimmerwiedersehen im Tunnel zu verschwinden. Der Lederball, sein ganzer Stolz, war unwiderruflich verloren.
Seit diesem Tag hatten ihn die Großen auf dem Bolzplatz nicht mehr mitspielen lassen.
Mit zehn gab er die Hoffnung auf eine Fußballerkarriere zur großen Enttäuschung des Vaters endgültig auf und verlegte sich auf das, was er besser konnte. Er wurde ein echter Fan von Schalke 04. Ohne Einschränkung, ohne Bedingung. Mit Leib und Seele. Er wurde der wahre Fan.
Ende der Siebzigerjahre, er musste so zehn oder elf gewesen sein, hatte er seine erste gewalttätige Begegnung mit einem Fan einer gegnerischen Mannschaft. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Unterstützer der Gastmannschaft für ihn eine wogende, mit Fahnen wehende Masse gewesen, weit entfernt in der Südkurve, die es galt, mit Sprechchören niederzuschreien und im Freundeskreis verbal niederzumachen. Manchmal sah der Fan natürlich auch Gruppen von Fans in anderen Farben auf dem Nachhauseweg, da er sich aber immer in Gegenwart seines Vaters und seiner Freunde befand, nahm er die Anderen nie bewusst und schon gar nicht als Bedrohung wahr. Der gegnerische Fan blieb für ihn anonym, abstrakt, unbegreiflich.
Das änderte sich an diesem besagten Samstag. Vater hatte sich am Vorabend einen Hexenschuss zugezogen, ging dann aber doch mit, entgegen Mutters Rat, zum Spiel gegen Werder Bremen. Da Vater schlecht zu Fuß war, trug er seinem Sohn auf, sich seine Wurst selbst am Stand zu holen und ihm ein Bier mitzubringen. Vater drückte ihm ein Fünfmarkstück in die Hand.
Er kannte den Weg. Zuerst nach links zum Aufstieg, dann etwa zehn Meter nach oben zum ersten Ausgang, die Treppe hinunter und auf der ersten Ebene weiter nach rechts bis zum Würstchen- und Bierstand.
An diesem Samstag war aber kein Stand an der vertrauten Stelle gewesen. Er überlegte, ob er zu Vater zurückkehren sollte, machte sich dann aber doch auf Richtung Gegengerade, um dort das Gewünschte zu besorgen.
Nach zwei, drei Minuten mischten sich immer mehr in grüne Trikots gekleidete Fans unter das Blau-Weiß. Ängstlich sah er sich nach einem Wurststand um, konnte aber nirgendwo einen entdecken. Zu allem Überfluss begann seine Blase zu drücken. Etwa dreißig Meter weiter entdeckte er ein Hinweisschild, das ihm den Weg zur Toilette zeigte. Sein Bedürfnis wurde immer dringender. Er betrat den Raum und pinkelte eilig in das Becken.
Als er sich umdrehte, sah er sich von jugendlichen Bremer Fans umstellt, die immer näher und enger rückten und ihn als ›Schalke-Schwein‹ und ›blau-weiße Sau‹ beschimpften. Er sagte, dass er doch nur eine Wurst und ein Bier für seinen Vater kaufen wollte und sie ihn doch, bitte, bitte, wieder gehen lassen sollten. Sein Flehen rief nur höhnisches Gelächter der anderen hervor, die ihn unvermittelt von hinten festhielten. Ein vierzehn oder fünfzehn Jahre alter Junge schlug ihm plötzlich so heftig auf die Nase, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Dann durchsuchten sie seine Taschen, nahmen ihm das Geld, das Vater ihm gegeben hatte, und prügelten erneut auf ihn ein. Er weinte.
Zu seinem Glück betraten in diesem Moment mehrere Männer in Blau-Weiß den Toilettenraum, erkannten die Nöte des kleinen Schalker Fans und verjagten die Gegner, die sofort verschwanden. Er stand da, blutete aus der Nase, hatte eine aufgeplatzte Lippe und verspürte einen abgrundtiefen Hass auf die Anderen , die ihn, den Kleineren, verprügelt und bestohlen hatten.
Vater war wütend. Nicht nur über den Verlust der fünf Mark, sondern auch deshalb, weil er sich unerlaubt über die Grenzen des vertrauten Terrains hinaus entfernt hatte. Trotz eines Schalker Sieges gab es auf dem Heimweg kein Eis.
Von diesem Tag an begann er, von seinem gering bemessenen Taschengeld stets etwas zurückzulegen. Und als er genug gespart hatte, erwarb er vom fünfzehnjährigen Walter, der zwei Straßen entfernt wohnte und der unbestrittene König dieses Teils der Gegend um die Frankampstraße war, seinen ersten Schlagring, den er auf einem Trümmergrundstück auf der anderen Straßenseite versteckte. Seit dieser Zeit ging er
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