Tödliches Abseits (German Edition)
Artikel in der Neuen Juristischen Wochenschrift belohnt werden, das stand für Rainer fest. »Was, wenn ich fragen darf, kostet es denn, sich Ringe durch die Lippen ziehen zu lassen?«
»Fünfzig für die Löcher und ’nen Zwanni für jeden Ring.«
»Neunzig Mark?«, wunderte sich Rainer entgeistert.
»Ja, genau. Finden Sie das zu teuer? Kommt auch noch die Mehrwertsteuer drauf.«
Das beruhigte Esch nicht im Geringsten. Überschlägig kalkulierte er sein Honorar für ein außergerichtliches Verfahren auf gigantische dreiundvierzig Mark. Nichts mit dem Artikel in der NJW . Nichts mit dem Musterprozess vor dem Bundesgerichtshof. Neunzig Mark! Zuzüglich Mehrwertsteuer! Der Mindeststreitwert für ein Verfahren vor dem Landgericht lag bei 7.000 Mark. Also Amtsgericht Bochum. Dahin verirrte sich hin und wieder ein Journalist der Lokalredaktion der WAZ . Wenn überhaupt. Solche Mandanten wie Holger Müssler waren der Ruin jeder Anwaltskanzlei.
»Na gut«, resignierte Rainer. »Dann geben Sie mir mal Ihre Anschrift und die des Piercingstudios. Und unterschreiben Sie mir bitte die Vollmacht.« Er seufzte tief. »Machen Sie sich keine Gedanken wegen der Anwaltsgebühren. Die werden nicht sehr hoch sein. Wenn wir uns außergerichtlich einigen, so um die vierzig Mark.«
Müssler nickte. Und für einen kleinen Moment fragte sich Esch, ob es nicht besser gewesen wäre, den Beruf des Dauerstudenten beizubehalten.
Nach Erledigung der Formalitäten deutete Esch mitleidig auf die kreuzartige Erhebung am rechten Handrü-
cken seines Kunden. »Sagen Sie, es geht mich ja nichts an, ein Unfall?«
»Unfall? Nee, der neueste Schrei. Kommt aus den USA. Implantate. Edelstahl. Direkt unter die Haut. Ohne Narkose. Geil, was? Wenn Sie wollen, ich habe die Adresse dabei ...«
»Danke«, wehrte Rainer entsetzt ab. »Vielen Dank. Vielleicht später. Sie hören dann von mir.«
Er bugsierte Holger Müssler aus dem Büro. Neunzig Mark Streitwert! Und Implantate! Das war mehr, als er an einem Tag ertragen konnte.
Er verschob die Fertigstellung des Briefes an das Studio Harmonie auf morgen und verließ wenig später sein Büro, um den Beweis für die Richtigkeit der Theorie des Anwalts-Einwohner-Quotienten im Recklinghäuser Drüb belken zu begießen.
17
Das Wichtigste waren die Heimspiele. Eine Orgie in Blau-Weiß. Und sie mussten gewonnen werden, um jeden Preis, egal, wie hoch das Opfer war. Der Fan war bereit, ein Opfer zu bringen, und er tat es.
Schon vor einigen Jahren hatte er, mit gespanntem Interesse und atemlos, Gespräche seiner Fanclubkameraden verfolgt, die sich darum drehten, wie wichtig für einen Heimsieg die ritualisierende Beschwörung des Fußballgottes war. Einige Schalke-Anhänger trugen immer das Trikot mit der Nummer zehn und gingen nicht zu einem Heimspiel, wenn das Shirt aus irgendeinem Grund nicht greifbar war, so attraktiv der Gegner auch sein mochte.
Andere brachten ihren Vereinsausweis zum Spiel mit oder irgendein Maskottchen. Wieder andere gingen grundsätzlich immer nur mit denselben Leuten ins Stadion. Kam es, aus welchem Grund auch immer, zu einer Abweichung von dieser Regel, war es mehr als wahrscheinlich, dass Schalke verlor.
Auch der Vater des Fans hatte, vielleicht unbewusst, Rituale: der Besuch in der Kneipe vor dem Heimspiel. Der gemeinsame Aufbruch immer zur selben Zeit. Immer dergleiche Standort inmitten der Fans.
Rituale sind der Katechismus der Fußballfans.
Auch der Fan hatte Rituale. Und nur er war tatsächlich verantwortlich für Sieg oder Niederlage, während die anderen nur glaubten, dass sie es seien. Wenn er nicht ein Opfer brachte, verlor Schalke. Natürlich war auch ihm klar, dass die zweiundzwanzig Spieler auf dem Platz einen Anteil am Ausgang eines Spiels hatten. Wenn der Libero wegen einer Verletzung nicht aufgestellt werden konnte, der Torwart außer Form war oder der wichtigste Stürmer eine Sperre hatte, war die Schalker Mannschaft drastisch geschwächt und konnte verlieren. Das wusste auch der Fan .
Es ging aber um etwas anderes:
Warum, so fragte er sich, hebt der Schiedsrichterassis-
tent in einer umstrittenen Abseitsstellung die Fahne und behält sie in einer anderen unten?
Warum trifft ein Spieler bei einem angeschnittenen Freistoß von halb links aus fünfundzwanzig Meter Entfernung einmal den Pfosten und der Ball trudelt ins Tor – und ein anderes Mal ins Aus?
Warum hält der Torwart den flachen Ball des Gegners, geschossen aus der Höhe des Elfmeterpunktes, in dem
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