Toedliches Erbe
Nachbarschaft sei auch nicht mehr das, was sie einmal war, und bot sein Haus zum Verkauf an. Clarence Days oder J. P. Marquands Vater, meine ich.
Die Signale waren subtiler und hatten weniger verheerende Folgen.«
Reed ging elegant von ›Smoke Gets in Your Eyes‹ zu Cowards
›A Room with a View‹ über. »Wie siehst du diese Sache mit dem jungen Finlay?« fragte er und spielte mit der Linken eine verminder-te Septime. Reeds Akkorde waren immer etwas dünn und zufällig.
»Da ich die Jugend täglich studiere, würde ich spontan sagen, ein klarer Fall. Jemand will erwischt und von der Last seiner Schuld befreit werden. Warum sonst hat er es jedem in der Klasse erzählt?
Er hätte nur den Mund halten müssen, und nichts wäre passiert.
Selbst Leo und seine rechtschaffenen Freunde hätten es sicher ohne Protestgemurmel dabei belassen, wenn die Schule davon nicht offiziell erfahren hätte.«
»Du hast sicher recht«, sagte Reed, beendete eine Serie von Ak-korden, schwang sich auf der Klavierbank herum und sah sie an.
»Zumindest soweit. Eine andere Frage ist, warum um alles in der Welt er so etwas tun und sich damit eine Schuld aufbürden mußte. Er hat alles. Er ist nicht nur reich und blond und groß und ein meister-hafter Ringer, sondern auch noch ein eigentlich charmanter Junge.
Obendrein auch noch ein Genie – mit Leos Worten, ein verdammt begabter Junge, dem alle Türen offenstanden. Außerdem kommt er aus einer Familie, die seit Generationen eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben spielt.«
»So, wie du das ausdrückst, klingt es ziemlich schrecklich, im wahrsten Sinne des Wortes. Vielleicht mußte er dafür sorgen, daß etwas schiefging, ehe es von außen passierte, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ich verstehe schon, aber es klingt eher nach dir als nach ihm, 91
wenn ich das so sagen darf. Nach Leos Version hatte er die Vorstellung, alles im Griff zu haben, dazu gehörte, seinen Freund auf das College zu bringen. Nur wegen dieser Tests soll mein Freund nicht nach Harvard kommen? So in der Art.«
»Und in Ricardo fand er natürlich genau den richtigen Burschen, in dessen Namen er die Examina ablegen konnte. Laut Leo fährt Ricardo ohne Führerschein und sieht nicht ein, warum er sich mit derart prosaischen Dingen abgeben soll, wenn er irgendwohin will.
Das einzige, was ihn bisweilen anscheinend noch zurückhält, ist die Erkenntnis, fünf Jahre lang keine Fahrerlaubnis zu bekommen, wenn er erwischt wird. Er gleicht diesem Trainer, der dem Werfer seiner Mannschaft rät, den Kerl im gegnerischen Team mit einem bean ball zu traktieren, oder schweife ich jetzt ab? Ich meine die Devise: Was ich auch tue, ist richtig, denn ich stehe auf der richtigen Seite.«
»Das ist der Punkt bei der ganzen Geschichte, der mich so krank macht. Bitte verzeih mir, wenn ich auf deine bean balls nicht weiter eingehe, sie klingen mir zu exklusiv und zu sportlich. Jedenfalls handelt es sich hier um eine kriminelle Einstellung einfachster und bester Ausführung, die heute jeder teilt: Da meine Beweggründe immer richtig sind – egal, ob es um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten geht, um einen Geschäftsabschluß oder um die ent-schuldbare Eile, die einen bei Rot über die Kreuzung fahren läßt.
Meine Mißachtung der geltenden Gesetze ist stets gerechtfertigt.
Eine Mißachtung des Rechts durch andere ist hingegen bereits ein Angriff auf Amerika und muß verhindert werden.« Reed schwang wieder zu den Tasten herum und begleitete sich selbst, während er zitierte: »Die Worte, die du sagst – du sagtest sie damals schon, allein, ich weiß nicht wo und wann.«
»Aber Ricardo hat seine feste Meinung. Er sagt, wenn ein Kennedy nach Harvard kommt, weil er ein Kennedy ist, und irgendein Schwachsinniger, weil sein Vater eine neue Hockeybahn spendiert, warum soll er dann nicht seine Möglichkeiten nutzen und Finlay die Tests für sich schreiben lassen?«
»Du überraschst mich, Kate. Niemand wird gleich geboren, nur gleich geschaffen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Nutzen von Vorteilen, die einem die Herkunft bietet, und durch Betrug er-reichten Auszeichnungen, die man in keiner Weise verdient hat.
Sogar die Kennedys haben bezahlt und bezahlen noch immer einen ziemlich hohen Preis für ihre Privilegien. Genauso ist es mit dem reichen Jungen, dessen Vater die Hockeybahn gebaut hat. Man könn-92
te ebensogut sagen: Leo darf nicht aufs College, denn er hat seine Tests nur deswegen bestanden,
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