Toedliches Erbe
weil er bei einer zungenfertigen Tante mit großem und gewähltem Wortschatz lebt. Jedenfalls ist mir klar, daß der junge Ricardo ein sehr raffinierter Bursche ist - ›cool‹
würde Leo sagen –, der sich nicht so anhört, als mache er sich besondere Gedanken um soziale Gerechtigkeit als Prinzip.«
»Hältst du es für möglich, daß der junge Ricardo Max ähnlich ist? Oder meine ich Finlay? Max rief mich übrigens heute wegen dieses St.-Anthony’s-Dramas an; meine beiden Probleme verschmel-zen also. Das ehrliche tote Mädchen und der unehrliche lebendige Junge.«
»Mein Vorschlag«, sagte Reed, »wir nehmen jetzt einen Schlummertrunk und konzentrieren uns auf England, nicht auf Ver-wirrspiele. Denk an Phyllis, die für kurze Zeit deine Gesellschaft genießen darf und nicht mehr dazu verdammt ist, allein und hilflos die High Street hinunterzuspazieren, oder geht sie sie hinauf?«
Kate versprach, zu gehorchen und an England zu denken.
Das Versprechen ließ sich am nächsten Tag leichter einhalten, denn Kate fand auf ihrem Schreibtisch einen Brief von Crackthorne.
»Es ist merkwürdig«, schrieb er, »aber ich vermisse die Basketballspiele und unsere lebhaften, wenn auch geräuschlosen Unterhal-tungen. Ich schreibe Ihnen jedoch aus egoistischen und habgierigen Motiven, die ich nicht mit Seufzern des Bedauerns verbrämen will.
Es geht das Gerücht, daß Wallingford die Papiere von Cecily Hutchins besitzt und daß Sie der Mitgliedschaft in dieser erlauchten Institution so nah sind, wie eine Frau es nur sein kann. Besteht wohl irgendeine Chance, daß ein schlichter Doktorand, obwohl den männlichen Sportarten sehr verpflichtet, einen Blick hineinwerfen könnte?
Vielleicht hat sie ja einmal einen der Leute, über die ich schreibe, erwähnt oder mit ihm korrespondiert. Ich meine, sie waren nun einmal alle dort, und vielleicht haben einige, die den Krieg überlebt haben oder danach zurückgekommen sind, mit ihr gesprochen oder ihr gar, welch süße Hoffnung, geschrieben.«
Na ja, dachte Kate, dieses Spiel kann beiden nützen. Sie schickte Crackthorne einen kurzen Brief und wollte wissen, ob er im Verlauf seiner Recherchen auf die Hutchins, die Whitmore oder eine andere Frau dieser Generation gestoßen war. Es bereitete ihr außerordentliches Vergnügen, ihre bevorstehende Reise nach Oxford zu erwähnen und ihm ihre Adresse zu geben für den Fall, daß er innerhalb der nächsten Woche etwas Nennenswertes herausbekommen sollte.
93
Dann öffnete sie die Tür und teilte den draußen Wartenden den Beginn ihrer Sprechstunde mit. Nach einer Weile merkte sie zu ihrem Ärger, wie sehr sie sich Reeds Rat zu Herzen genommen hatte, an ihre Englandreise und deren Folgen zu denken. Vor allem die Folgen. Gewöhnlich freute Kate sich auf die Sprechstunden, doch heute schweiften ihre Gedanken immer wieder ab nach Wallingford.
Sie mußte sich regelrecht aus ihren Tagträumen in die Wirklichkeit zurückrufen und stellte fest, daß sie mindestens zwei weitschweifige Teilaspekte der Probleme einer Studentin schlicht nicht mitbekommen hatte. Schließlich gab sie auf, rief Sparrow an und bat ihn, noch einmal einen Blick in die Papiere werfen zu dürfen.
»Ich werde keine Gewohnheit daraus machen und Ihre Großzü-
gigkeit nicht ausnutzen«, versprach sie. »Aber zufällig fliege ich bald nach England, und ich möchte die Zusammenhänge verstehen.
Vermutlich will ich nur mit dem Thema vertraut sein«, schloß sie schwach. Die Wahrheit ist, sagte sie sich, als sie im Taxi auf dem Weg nach Wallingford war, daß ich Max beneide. Ich würde die Biographie gern selbst schreiben. Meine Motive sind also bis zu einem gewissen Grad unlauter. Zerre diese schändliche Tatsache ans Tageslicht und stell dich ihr, Kate Fansler. Egal, wie gut Max sein mag, eine Frau sollte diese Biographie schreiben. Eine durch und durch sexistische Feststellung, schloß sie, bezahlte das Taxi und grüßte den würdigen Mann an der Tür wie einen alten Bekannten.
»Wir sind mit dem Sortieren noch kein Stückchen weiter«, sagte Sparrow, als sie vor den Kartons standen. »Aber verschaffen Sie sich ruhig einen Überblick. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie zu mir, und wir trinken einen Sherry – natürlich nach Feierabend. Sie legen doch alles wieder zurück?«
»Ich bin ganz brav«, sagte Kate. »Sie können sich auf mich verlassen.« Schließlich war ja auch er ein braver Mensch. Sie kam sich ein wenig hinterlistig vor, weil sie Max nicht angerufen und ihm
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