Toedliches Erbe
Kerzenschein ihre Geschichten geschrieben und sie den Männern zum Spaß erzählt. Natürlich war sie aus dem Krieg zurückgekehrt mit der Vorstellung, sie könnte die Welt retten. Der Völkerbund und all diese Dinge… Niemand konnte die Welt retten. Aber wie wunderbar, es wenigstens für eine kurze Zeit geglaubt zu haben.
Kate las die Briefe, blickte hinaus in das Hofviereck und versuchte sich vorzustellen, wie es damals ausgesehen haben mochte, als die Whitmore am Michaelstag 1919 zurückgekommen war. Das folgende Jahr war das letzte ihres Studiums. Das Statut, nach dem auch Frauen Examina ablegen durften, trat in Kraft, und die erste feierli-che Diplomverleihung, an der Frauen teilnahmen, hatte das Sheldonian gewiß verändert, dachte Kate. Sie war wohl eine Zeremonie geworden, wie sie Regisseure in den unschuldigen Tagen des Holly-wood-Films gern ans Ende ihrer Streifen stellten. Mit den Worten von Vera Brittain: »Von den Rängen der Aula des Sheldonian, wo alles erfüllt war von dem Bewußtsein eines erfüllten Traumes, sahen junge und ältere Zuschauer hinab… auf eine komplizierte Zeremonie. Dann öffneten sich die großen Türen am Südflügel, und die fünf ersten examinierten Frauen betraten in Barett und Talar den Saal…
Nach einem Moment der Stille hallte die Aula wider von spontanem Applaus, und der Vizekanzler erhob sich, um an diesem historischen Platz die ersten Frauen in den Kreis der ›Masters of Arts‹ aufzuneh-men.« Für die Welt draußen hatte das Parlament den Frauen das Stimmrecht zugestanden und Oxford damit von der Gefahr der Ex-zentrizität befreit. Kate stellte sich vor, wie 1920 der ungewohnte Anblick von Frauen, die in Talaren und Studententrachten auf Fahrrädern durch die Stadt sausten und genau wie heute beim Läuten der Glocken in Säle eilten, die Hoffnung auf Fortschritt beflügelt haben mochte. Es mußte tatsächlich eine Zeit voller Erwartungen gewesen sein. Und der Krieg war natürlich vorüber und würde nie zurückkehren.
108
Morgens, bevor Kate ihr Hotel verließ und ins Somerville fuhr, wurde ihre Post zugestellt. Auch darin hatte England sich, wenn auch widerstrebend, dem allgemeinen Standard angepaßt. Es gab nicht mehr mehrere Zustellungen pro Tag. Nur wenige erinnerten sich noch an Zeiten, als man beim Lebensmittelhändler per Postkarte bestellte und der noch am selben Tag lieferte. Immerhin kam die Post vor neun Uhr morgens, so daß man bei Tagesbeginn wußte, woran man war.
Am Morgen des sechsten Tages erhielt Kate drei Briefe. Als ersten öffnete sie den von Reed. Im vorletzten Absatz versicherte er ihr, daß der Wirbel am St. Anthony’s sich entwickelte wie erwartet. Die Lehrerschaft zeigte sich von den Neuigkeiten wie betäubt, und das nach Reeds Vermutung nicht zuletzt deswegen, weil sie durch Schü-
ler davon erfahren hatte. Ihre Reaktionen waren unterschiedlich ausgefallen, und Leo und die übrigen Schüler hatten, wie Reed vo-rausgesehen hatte, eine Reihe spitzer Bemerkungen einstecken müssen. Das werde aber, meinte er, vorbeigehen. Sie solle sich keine Sorgen machen. Er habe Leo gebeten, ihr zu schreiben.
Leos Brief, den Kate als nächsten öffnete, war außerordentlich beruhigend, weil er auf die Angelegenheit mit keinem Wort einging.
Leo hatte offenbar begriffen, daß sein Brief sie in erster Linie beruhigen sollte. »Liebe Kate«, schrieb er, »hier läuft alles prima. Keine besonderen Vorkommnisse, obwohl Reed sagt, er würde Dir schreiben, was los ist. Ich habe alle Bücher gelesen, die ich erst für die Schlußexamen Ende Mai hätte lesen müssen. Wie Du weißt, habe ich im letzten Semester nur Mistkurse belegt (mit denen er – und er wußte, daß Kate wußte – Literaturkurse meinte). Warum schaust Du Dir trotz all Deiner hochtrabenden Unternehmungen nicht mal ein richtiges Fußballspiel an? Fußball ist in Europa und Südamerika das Spiel der Spiele, und Du solltest Dir ein Match ansehen, auch wenn es kein Spiel der Tabellenersten ist. Ist wirklich super. Wenn es geht, setz Dich neben einen, der Dir die Spielzüge erklären kann. Du schaffst das bestimmt. Herzlich, Leo.« Kate bewunderte Leos Beru-higungstalent und die Art, wie er mit dem nächsten Schlenker selbst aus der Ferne wieder den sicheren Boden des Sports erreichte.
Der dritte Brief war um einiges dicker und stammte von Crackthorne.
»Liebe Kate«, schrieb er, »das Ende der Basketball-Saison gibt mir die Zeit, für Sie ein paar literarische Recherchen anzustellen. Ich
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