Tödliches Experiment: Thriller (German Edition)
weiter. Das Gehirn kann sich dann auf das rein Abstrakte konzentrieren. Auf das Denken, mit anderen Worten.“
„Das unterscheidet sich schon sehr von Johns Theorie“, protestierte Susan. „Das klingt ja fast nach erzwungener Tetraplegie, nach künstlicher Lähmung der vier Gliedmaßen!“
„Tetraplegie, gewissermaßen, ja. Aber nicht erzwungen. Alle unsere Versuchspersonen sind Freiwillige. Wirbezeichnen sie als EGs oder Experimentalgehirne. Unsere Ergebnisse sind bemerkenswert.“
„Inwiefern?“
„In einigen Fällen haben wir die tatsächliche Ausnutzung des Gehirns, die bei einer Norm von etwa fünf bis zehn Prozent der Gesamtkapazität liegt, auf beinahe fünfzehn gesteigert. Mit der Alternativbereichsentwicklung glauben wir, sie um weitere zehn Prozent oder vielleicht sogar noch mehr steigern zu können.“
Susan staunte. Michael hatte Johns Ziel bereits zur Hälfte erreicht. Wenn man Johns Forschungen dazu nahm, konnte man die Ausnutzung des Gehirns vielleicht auf mehr als das Dreifache der gegenwärtigen Werte steigern. Die Folgen waren unvorstellbar, möglicherweise ebenso groß wie die Nutzbarmachung des Atoms. Ein derartiger Quantensprung in der Denkfähigkeit des Menschen könnte die Verwirklichung einer sozialen und wirtschaftlichen Utopie an Stelle des Weltunterganges bedeuten. Susan begann einige der Gründe zu verstehen, warum Borg-Harrison so auf Geheimhaltung bedacht war.
Sie konnte ihre Erregung nicht verbergen. „Was du sagst, Michael, ist unglaublich.“ Dann kehrte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und schüttelte den Kopf. „Aber Johns Arbeiten waren größtenteils noch Theorie. Vieles muss noch getan werden, bevor man praktische Ergebnisse erzielen kann.“
Er zuckte die Achseln. „Was zu tun ist, wird getan. Mit deiner Hilfe wäre Vieles für uns einfacher. Keiner versteht Johns Arbeiten so wie du. Aber unabhängig davon will ich, dass die Sache Wirklichkeit wird.“
Er sprach mit einer Heftigkeit, wie sie Susan bis jetzt nur bei John erlebt hatte. Wie ähnlich sie einander waren, dachte Susan, beide so brillant und so der Wissenschaftergeben. Und doch so verschieden. John, der nur aus Armen und Beinen zu bestehen schien – keiner seiner Gesichtszüge passte so ganz zu den anderen –, mit seiner oft exzentrischen Art; Michael, so gutaussehend und charmant, weltmännisch. Mit ihm war man einfach gern zusammen. Wie unterschied sich aber der wahre Michael, der Mensch, den sie nicht kannte, von dem verwundbaren John, der sich hinter dem zynischen und oft rüden Äußeren verbarg?
Auf der Heimfahrt dachte sie über die Fragen nach, die Michael nur ausweichend beantwortet hatte. „Michael, wer genau sind eure Freiwilligen?“
„Es sind Menschen, die sonst gestorben wären.“
„Mit ,sonst‘ meinst du ohne die neurologische Blockierung, von der du gesprochen hast?“
„In den meisten Fällen, ja.“
„Ist das dann etwas Bleibendes?“
„In gewisser Weise ja.“
Etwas an seiner Antwort klang ein wenig ausweichend. Sie wollte noch mehr fragen, dann aber dachte sie, ach zum Teufel! Sie wollte nicht mehr über etwas sprechen, das sie an die Arbeit und an John erinnerte, denn sie wollte nicht glauben, dass Johns Arbeit der einzige Grund für Michaels Einladung zum Abendessen gewesen war.
Die Dunkelheit im Wagen, seine Gegenwart, der sanfte Lichtschimmer am Armaturenbrett gaben ihr ein wunderbares Gefühl des Losgelöstseins. Sie fühlte sich geschützt gegenüber der Außenwelt, gegenüber der Stadt, die sie umgab, gegenüber den vereinzelten Fußgängern, die sie sah, vorbeihuschende Schatten in matt erleuchteten Straßen, denn es war spät. Für kurze Zeit war sie der Einsamkeit entflohen. Nur zu bald würde dieser Abend enden.
Sie brausten die Constitution Avenue hinauf, am Capitol vorbei, und hielten einige Minuten später vor dem Haus an der 6th Street. Michael nahm Susans Hand und dankte ihr für den schönen Abend. „Das werden wir wieder machen. Denk mal über mein Angebot nach. Überstürze nichts. Du hast wohl ohnehin sehr viel zu tun.“
„Ich werde es mir überlegen. Das verspreche ich.“
Sie blieb noch einen Augenblick lang in der Tür stehen, bis die Rücklichter von Michaels Wagen verschwunden und das Motorgeräusch verhallt waren. Das Angebot war verlockend. Sie war zwar nicht John, aber der Versuch, seine ABE Theorie in die Praxis umzusetzen, wäre wunderbar. Zumindest konnte sie seine Ergebnisse zusammenfassen und Michael vermitteln,
Weitere Kostenlose Bücher