Toedliches Fieber
Blick. Ich stand auf, knallte den Teller aufs Tablett und brachte es weg. Dann verließ ich den Speisesaal.
Im Innenhof fing ich an zu rennen, sonst hätte ich irgendwas kaputt gemacht. Wegzulaufen schien mir die bessere Alternative zu sein. Ich hätte auch einfach durchs Schultor laufen können, denn Abschlussschüler durften in der Mittagszeit nach Belieben kommen und gehen. Doch ich war mir nicht sicher, ob ich dann je wiederkäme, und für diese Entscheidung war es nicht der richtige Zeitpunkt.
Stattdessen rannte ich blindlings über den Innenhof und weiter am Biologielabor vorbei. Ich wollte mich irgendwo verstecken, wo ich möglichst nicht auf Ruby traf. Hektisch schaute ich mich um. Überall Leute. Wo sollte ich bloß hin?
Da entdeckte ich Dr. Drury, der gerade aus dem Musikflügel kam. Ich versteckte mich, bis er fort war, und schlich hinein.Da ich keinen Raum reserviert hatte, verletzte ich streng genommen die Schulregeln und riskierte Nachsitzen, wenn man mich erwischte. Egal. Oben übte jemand Klarinette. Ich schlich auf Zehenspitzen zu dem Bandprobenraum und lauschte. Es war ganz still. Ich drückte die Klinke runter und war erleichtert, dass der Raum leer war.
Dann schnappte ich mir die Gitarre, als wäre sie ein Rettungsanker, holte einen Hocker und setzte mich in eine Ecke, um zu spielen. In meinem Kopf herrschte großes Durcheinander, ich musste mich dringend ausloggen. Es half, die Finger über die Saiten gleiten zu lassen. Langsam setzte sich der Rhythmus gegen das Chaos durch. Doch wirklich tröstlich war auch das nicht, denn der Takt klang für mich wie: sinnlos, sinnlos, sinnlos, sinnlos …
Dieses Wort zog eine Litanei anderer negativer Wörter, die größtenteils von Ruby stammten, nach sich. Immer wieder hörte ich den Satz: Seth Leontis gehört mir. Als Ruby das gesagt hatte, fühlte es sich so schrecklich falsch an. Doch warum?
Das wusste ich ganz genau. Hatte es eigentlich immer gewusst. Selbstverständlich hatte Ruby kein Recht auf Seth. Wie hatten meine Ängste hinsichtlich der ungeschriebenen Schulregeln und meines mehr oder weniger schlechten Rufs etwas so Offensichtliches bloß verdrängen können? Wenn Seth und Ruby füreinander bestimmt gewesen wären, wären sie längst zusammen. War es das, was Seth mir die ganze Zeit sagen wollte? Und jetzt hatte er aufgegeben.
Das hieß natürlich, dass er auch mir nicht gehörte. Er war weg …
Doch wohin?
Ging es ihm gut?
Ich redete mir ein, dass er zurückkommen würde. Niemand haute einfach aus der Schule ab und kam nie wieder zurück.
Doch genau das hatte ich auch getan, sogar zwei Mal.
Vor Angst bekam ich Bauchschmerzen und geriet regelrecht in Panik, als ich mir die Zukunft ohne ihn vorstellte.
Abgründe
Seth sprang ins Wasser, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben, und ergab sich erleichtert dem starken Strudel.
Was hatte er getan, um eine solche Folter zu verdienen? Warum verlangte das Schicksal von ihm, Livias Tod ein zweites Mal zu erleben? Als er sich der überwältigenden Kraft ergab, die ihn von allen Seiten bedrängte, wünschte er sich, alles vergessen zu können. Er hatte so lange darum gerungen, eine Art gleichgültigen Friedens zu finden, und nun war seine Seele von Neuem zerrissen.
Seth war noch nicht so weit, als das Wasser ihn wieder ausspuckte. Er fühlte sich der Aufgabe, Verantwortung für seinen Körper zu übernehmen, noch nicht wieder gewachsen. Er ließ sich auf dem Wasser treiben, wünschte, es würde ihn einhüllen, ihn reinwaschen.
Doch nachdem seine Arme und Beine ihn instinktiv ans Ufer gebracht hatten, lag er nun am kühlen Tamesisufer von Parallon. Er setzte sich hin, starrte mit leerem Blick auf die Fluten und ließ die Szenen, die er lieber vergessen hätte, vor seinem inneren Auge Revue passieren. Es spielte keine Rolle mehr, ob Zackary sich über seine vorzeitige Rückkehr aufregte. Auch sein Forschungsprojekt, von dem er doch so besessen gewesen war, war ihm nun gleichgültig. Blinzelnd saher in seine grenzenlose Unsterblichkeit und sehnte sich von tiefstem Herzen nach ihrem Ende.
Seth merkte nicht einmal, dass es kalt wurde. Es wurde dunkel, und er bemerkte auch das nicht, genauso wenig wie Matthias, der ganz in der Nähe auftauchte und ihn schockiert ansah. Als Matt ihn hochzog, nahm er es kaum wahr – und auch nicht, dass er ihn vom Fluss mit nach Hause schleppte.
Matthias bekam es mit der Angst, je länger er Seth ins Gesicht sah. War sein Freund in den traurigen Abgrund seines
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