Tödliches Labyrinth
hatte wöchentlich zehn Dollar Taschengeld bekommen, damit sie lernte, mit Geld umzugehen.
Für Leah war das eine beträchtliche Summe gewesen, denn wäre sie gefragt worden, hätte sie ohne zu zögern geantwortet, ihre Familie sei arm. Ihr Vater nahm jeden Job an, den er bekommen konnte, und ihre Mutter arbeitete in den Häusern als Putzfrau, deren Eigentümer es sich leisten konnten, sie ein- oder zweimal in der Woche zu sich kommen zu lassen. Und doch war es ihren Eltern möglich gewesen, ihr dieses bemerkenswert großzügige Taschengeld zu zahlen.
Seit dem Tag hatte sich Jim jeden Morgen beim Frühstück mit ihr zusammengesetzt, damit sie gemeinsam in der Zeitung die Börsenkurse studieren konnten. Leahs zehn Dollar standen für hypothetische zehntausend Dollar, die sie investieren sollte, während ihr Vater in einem Notizbuch jede ihrer Kaufentscheidungen festhielt. Wenn sie am Ende der Woche theoretisch tausend Dollar an der Börse verloren hatte, musste sie einen echten Dollar von ihrem Taschengeld zurückgeben. Hatte sie dagegen tausend angenommene Dollar verdient, dann strahlte Jim stolz und nahm seine Geldbörse, um ihr einen weiteren Dollar zu ihrem Taschengeld zu geben.
Samstags setzten sich die Tallclouds in den ramponierten alten Truck und fuhren in die nächstgelegene Stadt, um die Einkäufe zu erledigen. Dort konnte Leah dann auch einen Teil ihrer erwirtschafteten Gewinne ausgeben, den größten Teil musste sie aber für das College sparen.
Heute wollte sie Kosmetika kaufen, da sie endlich ihre Mutter dazu hatte überreden können, Make-up tragen zu dürfen. Faith wusste nicht, dass Leah sich bereits seit zwei Jahren in der Schule heimlich schminkte. Als sie jetzt vor der Kommode stand und ihr Spiegelbild betrachtete, war sie noch aufgeregter als sonst, wenn sie in die Stadt fuhren. Zwar konnte man nicht wirklich von einer richtigen Stadt sprechen – immerhin war sie so klein, dass sie auf den meisten Straßenkarten nicht mal vermerkt war –, doch auch wenn es sich um kaum mehr als eine Ansammlung von Häusern an einer Straßenkreuzung handelte, gab es ein Lokal, eine Bank und eine altmodische Kolonialwarenhandlung, vor der sich auch ein paar schwerfällige Zapfsäulen befanden.
Dieses Geschäft bildete eindeutig das Stadtzentrum, da es alles bot, um Menschen aus der Umgebung anzulocken, die zum Teil meilenweit fahren mussten. Also gab sich Leah Mühe, sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Sie bürstete ihr langes Haar, bis es glänzte, und sie zog ihr schönstes Sommerkleid an. Es war aus weißer, mit Spitze besetzter Baumwolle und betonte nicht nur ihr Haar und ihre Haut, sondern auch ihre leuchtenden Augen.
Während sie sich im Spiegel betrachtete, überlegte sie, ob sie ihr Haar hochstecken sollte, da es sie womöglich älter und intellektueller aussehen ließ. Sie entschied sich, genau das zu machen, nahm ihr volles Haar hoch und fasste es mit einem großen goldfarbenen Clip zusammen.
Ja, das sah viel besser aus. So wirkte sie mindestens wie zwanzig.
Dann nahm sie ihre Handtasche und holte das dort versteckte Make-up heraus, um sich zu schminken. Da sie nun die Erlaubnis dazu hatte, war sie überzeugt davon, dass ihre Mutter nichts dagegen haben würde, wenn sie sich schon jetzt Make-up auflegte, nicht erst nach der Fahrt in die Stadt. Abschließend legte sie ein Paar goldene Ohrringe an, dann drehte sie den Kopf mal nach links, mal nach rechts, um zu sehen, wie sie ihr standen.
“Leah, bist du so weit?” rief ihre Mutter aus der Küche.
“Ja, Mom, ich komme”, antwortete Leah. Nach einem letzten Blick in den Spiegel, mit dem sie sich davon überzeugen wollte, dass sie gut aussah, nahm sie ihre Handtasche, legte den Riemen über die Schulter und eilte aus ihrem Zimmer, um sich ihren Eltern anzuschließen.
“Mein Gott, Leah!” rief Faith aus, als sie sich vom Küchenschrank abwandte und ihre Tochter ansah, die in der Tür stand. “Was hast du gemacht? Du siehst … du siehst …"
“… zur Abwechslung mal wie eine junge Frau aus? Willst du das sagen?” entgegnete Leah mit einem scharfen, verärgerten Tonfall in ihrer Stimme. “Gut so! O Mom, wann wirst du das endlich einsehen? Ich bin kein Kind mehr! Wann wirst du verstehen, dass ich so sein will wie andere Mädchen in meinem Alter? Dass ich mich mal vergnügen möchte? Ich glaube, ich habe auch ein Recht darauf. Ich arbeite sehr hart, Mom, und das weißt du. Ich lerne den ganzen Tag, ich helfe im Haushalt, aber ich habe
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