Tödliches Labyrinth
Veränderungen in der Zusammensetzung der Chefetage von MMI. Im Prinzip stand jeder, der in den letzten zwanzig Jahren im Aufsichtsrat gesessen hatte, unter dem Verdacht, an der Verschwörung beteiligt gewesen zu sein.
Während Leah die Fotos betrachtete, die die Artikel illustrierten, fragte sie sich unwillkürlich, welcher der Männer möglicherweise für den Tod von Roland und Natalie Marlowe verantwortlich war – und damit auch für den Mordanschlag auf ihr eigenes Leben. Sie fragte sich, wer es wohl war, der ein weiteres Attentat verüben oder in Auftrag geben würde, wenn sich herausstellte, wer sie wirklich war.
Einige der Männer waren inzwischen natürlich längst verstorben – infolge von Alter, Krankheit oder Unfällen. Doch es gab allen Grund zu der Annahme, dass jüngere Verschwörer aus den eigenen Reihen nachgerückt und neue Leute von außen dazugestoßen waren. Trotz all der Informationen, die ihr zur Verfügung standen, würde es für Leah schwierig werden, jeden ihrer Feinde bei MMI zu identifizieren.
Ihre Feinde!
Der Gedanke allein genügte, um sie schaudern zu lassen.
Bis zum heutigen Tag war ihr nicht bekannt gewesen, dass sie auf dieser Welt irgendeinen Widersacher hatte, ganz zu schweigen von einer ganzen Gruppe, die für sie eine tödliche Gefahr darstellte. Es war eine erschreckende Erkenntnis, ganz besonders für eine junge Frau, die gerade einmal sechzehn Jahre alt war und die sich bislang höchstens darüber hatte Gedanken machen müssen, ob sie die Erlaubnis bekommen würde, sich zu schminken und sich mit Jungs zu treffen.
Leah wünschte sich, sie hätte ihre Mutter nie bedrängt, ihr zu erklären, warum sie ihr Leben so führten, wie sie es taten. Wäre sie doch bloß nicht so aufsässig und hartnäckig gewesen! Dann hätte sie dies alles erst in fünf Jahren erfahren.
Doch es war zu spät, um die Zeit zurückzudrehen, um Rolands Aktenkoffer zu verschließen und so zu tun, als hätte sie nie einen Blick hineingeworfen, als wüsste sie nichts von ihrer wahren Identität und von der Geschichte ihrer Familie, von dem Ziel, von dem Jim und Faith hofften, dass sie es eines Tages erreichen würde.
Von trüben Gedanken heimgesucht, fühlte sich Leah mit einem Mal sehr alt, als würde das Gewicht der ganzen Welt auf ihren schmalen Schultern lasten. Sie wollte nur wieder jung und unschuldig sein, sie wollte sich um nichts anderes sorgen als um die Frage, ob sie die Abschlussprüfungen in der Schule bestanden hatte oder nicht, ob ihr Geld für ein neues Kleid oder ein Paar Schuhe reichte.
Doch das war nun nicht mehr möglich. So wie die Pandora aus der Mythologie hatten sie eine Büchse geöffnet und einen Schrecken freigesetzt, der sich nicht wieder wegschließen ließ.
Ihr einziger Trost bestand darin, dass sie nun zumindest wusste, warum sie anders war, vor allem, was ihr Aussehen anging. Das indianische Erbe kam allein von ihrem Vater und war schon bei ihm beträchtlich abgeschwächt gewesen. Es war nicht nur so, dass sie mühelos für eine Weiße durchging. Sie
war
eine Weiße, und diese Erkenntnis war für sie ein weiterer schwerer Schlag. Von einem Augenblick zum nächsten hatte man ihr das gesamte kulturelle Erbe entrissen und sie in einem Nichts zurückgelassen.
Marlowe. Was für ein Name war das überhaupt? Ein englischer? Ein französischer? In jedem Fall war er von einem ganz anderen Ursprung als der Name Tallcloud. Diesen Namen verband sie mit Schauplätzen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte – nicht nur kulturell, sondern auch gesellschaftlich.
Schließlich sammelte Leah wie in Trance die Dokumente, Fotos und Ausschnitte zusammen, die sie auf ihrem Bett ausgebreitet hatte, und sortierte sie. Danach legte sie alles zurück in den Aktenkoffer. Dann klappte sie ihn zu und verschloss ihn wieder. Mit dem Koffer in der Hand ging sie von ihrem Zimmer zur Küche, wo ihre Eltern am Tisch saßen, Kirschkuchen aßen und Kaffee tranken. Sie stellte die Aktentasche auf den Tisch.
“Das ist alles noch so … so unfassbar, so unglaublich”, sagte sie leise.
“Leah, wir können uns vorstellen, dass es für dich ein ziemlicher Schock sein muss.” Faith stand auf, legte ihre Arme um die Ziehtochter und drückte sie fest an sich. “Darum wollten wir es dir erst später erzählen, wenn du älter bist. Wenn du besser in der Lage bist, damit umzugehen. Allerdings glaube ich, dass deine Neugier zu groß war, um dir irgendetwas anderes als die Wahrheit zu sagen. Du hast die
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