Tödliches Labyrinth
erfahren würden, dass sie wider Erwarten doch noch lebte.
Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätte sie sich etwas Derartiges ausmalen können. Es kam ihr wie eine Geschichte vor, die man in einem James-Bond-Film erzählen würde. Das Ganze war so unglaublich, dass sie es einfach nicht für die Realität halten konnte. Vermutlich hätte sie es sogar als Hirngespinst von Jim und Faith abtun können, wären da nicht die Beweise gewesen, die jedes Wort untermauerten.
In der Nacht des Unfalls war es Jim gelungen, aus dem Kofferraum des Wagens Roland Marlowes schwarzen Aktenkoffer zu holen, bevor der Tank des Mercedes explodiert war. In diesem Koffer befanden sich jene Dokumente, von denen Roland geglaubt hatte, sie seien von Bedeutung, um seinen Gegnern das Handwerk zu legen: seine privaten Aufzeichnungen, die Daten jener geschäftlichen Transaktionen, die aus seiner Sicht für seinen Vater uncharakteristisch gewesen waren; Einzelheiten über die beiden fehlgeschlagenen Attentate; eine Liste der Schritte, die er unternehmen wollte, um stichhaltige Beweise zu sammeln, dass ein Konsortium aus den eigenen Reihen des Konzerns seinen Vater entweder getötet oder auf andere Weise handlungsunfähig gemacht hatte, um die Kontrolle über das Unternehmen zu erlangen.
Außerdem befanden sich im Koffer die Heiratsurkunde von Roland und Natalie, Angelinas Geburtsurkunde, ihre Krankenhausunterlagen und das Säuglingsarmband sowie eine eidesstattliche Erklärung, vorbereitet von der Anwaltskanzlei, die die Angelegenheiten ihres Vaters geregelt hatte. Die Erklärung war von ihren Eltern unterschrieben und notariell beurkundet und enthielt ihre Fingerabdrücke, zusammen mit der Bestätigung, dass sie von Angelina Noelle Marlowe stammten.
Es war nicht zu übersehen, dass Roland sich Sorgen darum gemacht hatte, was mit seiner Tochter geschehen würde, sollte ihm und Natalie etwas zustoßen. Ihm war es wichtig gewesen, dass Angelina zweifelsfrei ihre Identität beweisen konnte, sollte das jemals erforderlich sein. Er hatte die Vorkehrungen getroffen, die möglich waren, um seine Tochter zu schützen. Roland hatte nicht ahnen können, welche Fortschritte die Erforschung der DNS einmal machen würde.
“Er und Natalie haben dich sehr geliebt”, hatte Faith ihrer Tochter gesagt. Als Leah sich nun den Inhalt des Koffers ansah, bildete sich ein Kloß in ihrer Kehle, da sie erkennen musste, dass ihre Mutter – sie konnte in Faith einfach keinen anderen Menschen als ihre Mutter sehen – die Wahrheit gesagt hatte. Ihre Eltern hatten sie nicht irgendwelchen Kidnappern überlassen, wie sie es sich manchmal ausgemalt hatte. Sie hatten sie von Herzen geliebt und alles getan, um sie zu beschützen.
Während Leah die Fotos und Zeitungsausschnitte durchsah, die sich ebenfalls in dem Koffer befunden hatten, wurde ihr bewusst, wie jung ihre leiblichen Eltern gestorben waren. Nicht einmal zehn Jahre trennten sie von ihrem eigenen Alter. Roland war ein gut aussehender Mann gewesen, von dem sie die schwarzen Haare, die geschwungenen Augenbrauen und die vollen Lippen geerbt hatte. Von ihrer Mutter Natalie hatte sie die ungewöhnlich türkisfarbenen Augen, die hohen Wangenknochen und die fein geschnittene Nase.
Nachdenklich sah sie in den Spiegel über der Kommode. Zum allerersten Mal in ihrem Leben wusste Leah, wessen Tochter sie war, wessen Blut in ihren Adern floss. Das bedeutete ihr weitaus mehr als die Tatsache, dass sie die einzige Enkelin von Merritt Marlowe war, die Alleinerbin seines immensen Vermögens.
Ganz gleich, wie oft sie über Letzteres nachdachte, es wollte ihr einfach nicht real erscheinen.
Die Kluft, die die fast bettelarme Leah Tallcloud von der Milliardärin Angelina Marlowe trennte, war einfach zu groß, um sie überwinden zu können. Es war unmöglich zu sagen, ob ihr Großvater überhaupt noch lebte. Und selbst wenn, war sie für ihn doch schon vor sechzehn Jahren gestorben. Er würde längst sein Testament geändert haben, sofern er dazu noch in der Lage war. Er hätte veranlasst, sein Vermögen auf andere Weise zu verteilen, da es keinen Nachkommen gab, dem er seinen Konzern vererben konnte.
Sie konnte nicht damit rechnen, auch nur einen Bruchteil von Merritt Marlowes Reichtum zu erben, auch wenn Jim und Faith darauf beharrten, sie habe einen Anspruch auf ihr Erbteil und müsse alles Erforderliche unternehmen, um ihn durchzusetzen. Dafür hatten sie gelebt, und sie hatten ihr Bestes gegeben, um sie von klein auf so
Weitere Kostenlose Bücher