Tödliches Orakel
dass die Leute zwar im Raum sein können, dass ich sie aber nicht ansehen darf.«
Sam nickte, ich seufzte trotz dieser Zustimmung.
»Das klingt logisch, ich weiß. Aber ich war damals total neben der Spur. Das mit der Brücke war schon übel genug, ich habe deswegen viele Nächte nicht schlafen können. Bin aufgewacht, weil ich geträumt habe, dass ich falle. Und dann kam das auch noch dazu. Jemand schmeißt dich ins Wasser, du tauchst wieder auf und bist ein Freak.«
»Du bist kein Freak«, sagte Sam, ich ignorierte den Einwand.
»Ich habe dann einfach immer die Augen zu gemacht und so getan, als würde ich schlafen, wenn jemand kam. Oder ich habe weggeschaut. Nach unten. Ich kam mir dabei blöd vor. Das ist eine Körperhaltung, die ... na ja. Sie sagt 'Ich schäme mich'. 'Ich bin klein und schwach'. Das hat sich nicht gut angefühlt, aber ich habe es getan, damit die mich gehen lassen.« Ich lachte auf. »Und ich habe mich ja auch wirklich geschämt. Ich habe mehrfach alles vollgekotzt, Bett, Boden, was weiß ich. Da kann man sich mit gutem Recht auch mal schämen.«
»Und dann? Haben sie dich irgendwann entlassen.«
»Ja. Nach fünf oder sechs Tagen. Wie gesagt, sie dachten erst, ich hätte eine Infektion. Und sie hatten Angst, ich könne mir eine Lungenentzündung geholt haben, wegen der Kälte. Aber die Untersuchungen haben nichts ergeben, und in dem Einzelzimmer hat das mit dem Kotzen aufgehört.«
»Weil du keinen mehr angesehen hast?«, fragte Sam, ich nickte.
»Genau. Nachdem ich entlassen wurde, war ich noch eine Woche krankgeschrieben. Ich habe gegessen. Geschlafen. Schlecht und mit Albträumen, aber immerhin. Nur wenn ich raus gegangen bin, dann ... na ja.«
»Erzähl«, verlangte Sam. »Warum Rausgehen so in Problem ist.«
Ich seufzte. »Kannst du dir das nicht denken?«
Sam lächelte, ich sah ihm über die Scheibe dabei zu. Der Sturm hatte seinen Tonfall jetzt geändert: Er heulte hoch und schrill, als wolle er die peitschenden Blitze angemessen begleiten.
»Kann ich, ja. Aber vielleicht denke ich falsch.«
»Okay. Stell dir vor, du ... willst Brötchen holen. Weil Sonntag ist, weil du auf dem Balkon frühstücken möchtest.«
»Ich hätte gern noch eine Zeitung«, sagte Sam, ich seufzte.
»Gut, wir kaufen auch eine Zeitung. Du ziehst dir deine Schuhe an, gehst raus. Wen triffst du?«
»Meine Nachbarin«, antwortete Sam prompt. »Immer. Die wohnt im Hausflur, mit ihrem Wischmob. Und sie quatscht jeden voll, den sie sieht.«
»Du musst stehen bleiben, ihr zuhören. Du schaust dabei zu Boden, nickst, antwortest einsilbig. Denn wenn du sie ansehen würdest, dann würdest du ihr sagen müssen, dass ... ihr Sohn kokst und in drei Wochen das erste Mal Heroin probieren wird. Zum Beispiel. Bis zum Aussprechen wäre ich natürlich nicht gekommen.«
»Nein. Du hättest vorher ihren geliebten Hausflur ein bisschen verschmutzt.«
»Genau. Mein erster Ausflug in den Supermarkt hat genauso geendet: drei Meter von der Haustür entfernt. Ich bin nicht mehr schnell genug in meine Wohnung zurückgekommen, weil ich schon abgeschlossen hatte. Und den Schlüssel in die Tasche gesteckt. Aber es geht ums Prinzip: Selbst wenn du diese eine Nachbarin umgehen kannst, triffst du überall Menschen. Und wir sind so erzogen, dass wir andere Leute ansehen. Vor allem die, die wir kennen, die, mit denen wir sprechen. Du siehst die Verkäuferin an, wenn du deine Brötchen kaufst. Man sieht die Leute in der Schlange an. War der vor mir oder hinter mir? Versuch mal, durchs Leben zu gehen, ohne jemals jemanden anzusehen – es geht nicht.« Ich stockte. »Nein, das ist falsch, es geht schon. Aber es erfordert extrem viel Übung. Viel Konzentration.«
»Oder es kommt komisch rüber, wenn du dauernd Blickkontakt meidest?«
»Genau. Du wirkst wie ein geschlagenes Kind. Zusammengekauert, verschreckt. Und es war ja auch nicht nur das Kotzen. Es war dieses Sehen, was für mich viel schlimmer war. Das Sehen selbst, weil es ekelig ist, aber auch, was ich gesehen habe. Ich habe eine dicke Frau beim Joggen gesehen, und ich wusste, dass die Abnehmpillen aus dem Internet, die sie da schluckt, ihre Leber schädigen. Schon geschädigt haben. Ich habe sie gesehen, wie sie sich vor Schmerzen gewunden hat, wie sie vor Schmerzen geschrien hat. Ich habe eine Frau gesehen, die stolz ihr Baby herumgeschoben hat. Und ich wusste, dass sie im Altersheim sterben wird, mit über hundert Jahren, schrecklich einsam, weil sie alle ihre Kinder
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