Tödliches Orakel
ihm gesagt hätte. Also sollte ich mehr Menschen an diesem Glück teilhaben lassen.« »Klingt vernünftig«, sagte Sam und schwenkte seinen Wein im Glas herum, als wäre es Cognac. Wahrscheinlich war er mittlerweile genauso warm.
»Du kannst vielleicht nicht jedem eine tolle Nachricht überbringen, aber du kannst ihnen helfen. Bei den großen und kleinen Fettnäpfchen. Das ist gut.«
Ich schüttelte den Kopf, sehr bestimmt.
»Nein. Es kann nichts Gutes daraus entstehen, dass man beinahe in einem dreckigen Fluss ersäuft wird. Von einer Horde zugedröhnter Vollidioten. Und es hat sich auch nie gut angefühlt. Das Sehen. Es war ... nein: Es ist ekelhaft. Ich habe es jetzt besser im Griff, habe mich dran gewöhnt, aber das macht es nicht angenehmer.«
»Aber du bist ... aktiv.«
Ich lachte. »Ja. Frau Berger hat es dann so gedreht, dass ich das Beste für mich draus machen sollte. Geld verdienen und dabei versuchen, an mir zu arbeiten. Ich solle die Kunden benutzen, um mehr Leute zum Üben zu haben.«
»Zahlende Leute zum Üben?«
»Genau. Sie hat mich einfach so lange bearbeitet, bis ich gesagt habe, dass ich es versuchen werde. Am Ende gab es dann nur noch einen Einwand: Ich wollte keine Tode mehr sehen. Daher habe ich mir diese Sache mit der Frage ausgedacht.«
»Frage?«
»Ja. Jeder Kunde darf eine Frage stellen. Du warst der Erste mit einer Was-Frage. 'Was passiert am ...?'. Dann gibt es noch Wie-Fragen: 'Wie bekomme ich mehr Gehalt?'. Und Wann-Fragen, aber das sind die Dümmsten: 'Wann gewinne ich im Lotto?'. 'Wann treffe ich den Mann meiner Träume?'. Die Antwort lautet fast immer 'nie'.«
Sam lachte.
»Besser sind ob-Fragen«, fuhr ich fort. »Beispiel: 'Können Sie sehen, ob ich im Lotto gewinnen werde?' Wenn die Antwort dann nein ist, kann man sich immer noch einen Job suchen. Dann ist da natürlich auch noch die Frage nach dem Tod: 'Wann sterbe ich, wie sterbe ich?'. Aber die kommt gar nicht so häufig. Die meisten Leute wollen ihr Leben in den Griff bekommen, nicht ihren Tod planen oder überhaupt etwas über ihren Tod wissen. Also muss ich bei den meisten gar nicht so weit schauen. Wenn doch mal jemand vorzeitig dem knochigen Typen mit der Sense begegnet, sage ich das auch.«
»Ich weiß«, warf Sam ein. »Und ich bin dankbar dafür.«
Ich musste lachen.
»Wie seid ihr an die Kunden gekommen?«
»Wir haben Inserate in der Zeitung und im Internet gemacht, der Rest war Mundpropaganda. Ich bin mit 50 Euro für eine Frage gestartet.«
»Da hat die Inflation aber ganz schön zugeschlagen«, bemerkte Sam.
»Ja. Für 50 Euro pro Sitzung musste ich Dutzende von Kunden haben, jede Woche, mehrere am Tag. Einerseits war das gut. Ich konnte üben, viel üben. Aber ich musste natürlich auch kotzen.«
»Viel kotzen.«
»Sehr viel. Als ich drei Hosengrößen dünner war, haben wir damit Schluss gemacht. Das Telefon hat nicht mehr aufgehört zu klingeln, Kunden haben vor meiner Tür gestanden, weil sie 'noch mal eben kurz' was wissen wollten. Aber am Ende hatte ich zwei Sachen gelernt: Was ich da kann, ist begehrt. Sehr sogar. Und da ich niemals allen Menschen helfen kann, kann ich mir das Recht nehmen, diese meine Fähigkeit teuer zu verkaufen. Die Gebühr soll auch so etwas wie eine Hemmschwelle sein. Wenn ich das nicht so machen würde, würden die Leute mich aussaugen. Ich hatte Beine so dünn, wie meine Arme jetzt sind, als wir diese Testphase hinter uns hatten. Aber in dieser Zeit habe ich gelernt, dass ich es beherrschen kann. Dass es nicht so bleiben muss, wie es am Anfang war. Dass es vielleicht nie wieder so wird wie früher, aber erträglich.«
»Du igelst dich trotzdem ein«, sagte Sam, und machte mit der Hand eine Geste, die unpassenderweise vor allem die riesige Glasscheibe meines Wohnzimmers umfasste, gegen die der Wind den Regen presste und vor der die großen, scharfen Blitze jetzt immer öfter aufflackerten.
Ich nickte. »Ja. Aber das kann ich machen, wie ich möchte. Es schadet niemandem.«
Sam schien das anders zu sehen, wenn ich seine zweifelnde Miene denn richtig interpretierte, sagte aber nichts.
»Wir sind dann noch mal umgezogen, weil wir die alten Kunden hinter uns lassen mussten, die 50-Euro-Kunden.«
»Aber es kommt doch kein Mensch, wenn er in der Zeitung eine Wahrsagerin findet, die fast zehntausend für eine Stunde kassiert.«
Ich lächelte. »Richtig. Die zehntausend haben wir erst später festgelegt. Wir mussten erst mal wissen, was andere Wahrsager verlangen. Ob
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