Tödliches Orakel
viel Alkohol und Musik. Tanzen. In einem Club. Soweit okay, aber leider gab es immer ein Motto. Die Achtziger, die Siebziger. Disco. Hippies. In besagtem Jahr war es Disney. Damit es nicht zehn Mowglis gab, wurden Lose gezogen und ich erwischte Arielle, die Meerjungfrau. Ich habe mir eine rote Perücke besorgt und zwei große Plastikmuscheln auf einen hautfarbenen Body geklebt. Eine Kollegin konnte gut nähen, sie hat mir einen engen, grünen Rock geschneidert. Bodenlang, mit einer Samtflosse unten dran.«
»Keck.«
»Absolut. Gegen zwei Uhr in der Nacht hatte ich genug Prosecco intus und bin gegangen. Ich war nicht wirklich betrunken, aber angesäuselt.«
Die Welt war voller rosaroter Wattewölkchen gewesen, noch ein Glas, und es wären Gewitterwolken aufgezogen. Außerdem war meine schöne Schwanzflosse ziemlich lädiert, auf der Tanzfläche waren die Leute drauf rumgetrampelt.
»Es war nicht kalt, deswegen bin ich zu Fuß gegangen«, fuhr ich fort. »Es war nicht weit. Zwei Kilometer, maximal. Auf einer Brücke sind mir ein paar Jugendliche begegnet. Fünf oder sechs, alles Jungs. So siebzehn, achtzehn, neunzehn. Einzeln erträglich, in der Gruppe und angesoffen oder unter Drogen ein Horror. Sie haben dumme Sprüche über meine Perücke gemacht. Dann haben sie mein Kostüm entdeckt und beschlossen, dass ich mit der Schwanzflosse auf der Brücke nicht in meinem rechten Element wäre.«
Sam starrte mich jetzt wieder an und schien nur allmählich zu verstehen, was ich damit hatte andeuten wollen.
»Nein«, sagte er, und seine Stimme klang fassungslos.
Das war genau das, was ich auch gedacht hatte, als die erbarmungslosen Hände mich gepackt hatten. Als ich nach ihnen geschlagen und versucht hatte, mich wegzudrehen. Wegzulaufen. Zu schreien.
Ich nippte an meinem Wein, als müsste ich mir Mut antrinken, um die Geschichte weiter zu erzählen.
»Doch. Sie haben mich über die Brüstung in den Fluss geworfen. Unter viel Gelächter und Geschrei, sie hatten einen Mordsspaß. Und sie haben dabei ein Lied aus dem Film gesungen. Aus 'Arielle'. 'Ich will ein Mensch sein' heißt es, glaube ich.«
»Passend«, kommentierte Sam mit bitterer Stimme. »Was für Arschlöcher.«
»Ich bin vier, fünf Meter gefallen und in den Fluss geknallt«, fuhr ich fort. »Das Wasser war eiskalt. Wie ein Stromschlag, der durch meinen Körper knallt. Mein Herz ist stehen geblieben. Wirklich. Ich habe versucht zu schwimmen, nach oben zu kommen, und ich habe die ganze Zeit auf diesen fehlenden Herzschlag gehorcht. Ich dachte, mein Herz müsste doch eigentlich rasen, weil es so kalt in diesem Wasser war und weil ich solche Angst hatte, aber es war still. Wie tot. Ich habe versucht, mir selbst auf die Brust zu schlagen, um es wieder in Gang zu bringen, dann bin ich bewusstlos geworden.«
Sam sah mich immer noch an, ich blickte auf den Boden und unterließ es, ihn daran zu erinnern, dass er in das Feuer schauen sollte. Ich hatte die Geschichte erst zweimal erzählt: einer Polizeibeamtin und Frau Berger. Sie ging mir nicht flüssig von den Lippen.
»Der Fluss war kräftig, er hat mich mitgezogen. Ich weiß nicht, ob über Wasser oder unter Wasser. Ich bin wieder zu mir gekommen, als ich mit dem Kopf gegen irgendetwas gestoßen bin. Fest gestoßen. Mein Herz war wieder da, und es hat nicht geschlagen, sondern geflattert: viel zu schnell und viel zu ... leicht. Die Brücke war nicht mehr zu sehen, das Wasser drückte mich gegen ein Wehr. Ich hatte eine Platzwunde am Kopf, Blut im Gesicht. Ich habe um Hilfe gerufen, aber ich war nicht sehr laut und es war mitten in der Nacht. Niemand hat mich gehört, also musste ich selbst sehen, wie ich da wegkam. Ich habe mich an dem Wehr entlang zum Ufer gezogen, und das hat ewig gedauert. An dem Wehr hing Müll. Äste, Plastik. Ich habe mir alles zerkratzt, das Gesicht, die Arme. Meine Klamotten waren völlig zerrissen. Und ich habe so gefroren, meine Glieder waren ganz taub. Das Ufer war nicht sehr steil, ich habe es irgendwie geschafft, mich da drauf zu ziehen. Die Luft war noch kälter als das Wasser, und ich hatte schon so viel dreckige Brühe geschluckt, dass ich das Gefühl hatte, ich würde gleich platzen. Mir tat der Magen weh, mein Hals auch. Ich habe gehustet und gewürgt, habe mich gekrümmt vor Schmerzen. Und gezittert vor Kälte. Ich hätte es niemals weiter geschafft als bis zu diesem Ufer, aber ich habe Glück gehabt. Ein Ehepaar ging spazieren. Mitten in der Nacht. Mit einem Hund. Ich habe
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