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Tödliches Orakel

Tödliches Orakel

Titel: Tödliches Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tina Sabalat
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überleben wird. Ich habe eine Frau gesehen, die von ihrem Mann geschlagen wird, und das war, als würde jeder dieser Schläge in ihr Gesicht mich treffen. Es hat wehgetan, richtig weh.« Ich hielt inne. »Das sind nur Passanten, klar, aber das ist einfach ein Wissen, das man nicht möchte. Das hat nichts mehr mit Interesse an seinen Mitmenschen zu tun, das ist Voyeurismus bis ins letzte Detail. Ungewollter Voyeurismus. Ich habe richtig Panik bekommen beim Gedanken daran, ich könnte meine Mutter ansehen – und würde wissen, wann sie stirbt. Oder meinen Vater. Meinen Bruder. Freundinnen. Das hat mir wirklich Angst gemacht. Bei Fremden ist es eine Sache, bei Bekannten und Familie viel, viel schlimmer.«
    »Aber du ... kannst es doch nutzen, um sie vor Fettnäpfchen zu warnen. Und vor Falltüren.«
    Ich nickte. »Ja. Jetzt. Nach Jahren. Wo ich begriffen habe, wie das funktioniert. Was sich wann verändert. Wo ich weiß, dass ich aufhören kann zu schauen und auch, dass man die Zukunft ändern kann. Damals musste ich zuschauen, bis die Leute starben, ob ich wollte oder nicht. Ich habe jeden Menschen sterben gesehen, dem ich ins Gesicht geblickt habe. Das Leben endet immer mit dem Tod, natürlich, aber der Tod ist auch das, was jeder Mensch erlebt. Nicht jeder hat Kinder, nicht jeder heiratet. Aber sterben müssen wir alle. Ich habe genug Tode gesehen, glaub mir. Und auf dem Weg zum Brötchenholen können es locker fünf, sechs verschiedene sein. Menschen weinen, Menschen streiten. Menschen haben Schmerzen, Krankheiten. Leute nehmen Drogen. Trinken. Menschen schlagen ihre Kinder, missbrauchen ihre Kinder. Das hält man nicht aus. Ich zumindest, ich habe es nicht ausgehalten.«
    »Selbstmordgedanken?«
    Das Wort hing schwer in der Luft.
    »Ja«, sagte ich schließlich. »Nicht konkret, aber ... ich habe gespürt, dass es so nicht weitergehen kann. Ich wollte leben, aber nicht damit. Als ich wieder hätte arbeiten müssen, habe ich erst meinen kompletten Jahresurlaub genommen. Dann habe ich meinen Job fristlos gekündigt und mich in meiner Wohnung verschanzt, bin gar nicht mehr vor die Tür gegangen. Ich habe mir Essen bestellt, dann auch andere Sachen. Was ich brauchte. Für ein paar Wochen ist das gut gegangen, vielleicht hätte ich so ein paar Monate leben können. Aber auf Dauer nicht. Ich hätte Geld gebraucht – aber ich hätte noch nicht mal zum Amt gehen und Hilfe beantragen können. Ich habe mich gar nicht mehr getraut, die Wohnung zu verlassen.«
    »Und dann?«
    Ich stellte mein halbleeres Weinglas auf den Tisch.
    »Dann kam Frau Berger.«
     
    ***
     
    Ich musste Sam gar nicht großartig erklären, dass Berger der Name des Ehepaares gewesen war, das mich nach meinem unfreiwilligen Bad im Fluss am Ufer aufgesammelt hatte.
    »Herr Berger ist an genau dem Tag gestorben, den ich genannt hatte. Frau Berger hat ihn begraben, dann hat sie mich gesucht. Sie wusste meinen Namen, damals stand ich ganz normal im Telefonbuch. Sie hat an meiner Wohnungstür geklingelt, ich habe nicht aufgemacht. Sie ist dreimal wieder gekommen, und beim vierten Mal hat sie mir einen Brief unter der Tür durchgeschoben. Sie hat nicht gewusst, dass ich da bin, sie hat gedacht, ich wäre arbeiten. Der Brief war nett. Sie hat mir für die Wochen gedankt, die sie mehr hatte. Mit ihrem Mann. Sie schrieb, das zu hören hätte ihm entgegen aller Logik geholfen, tatsächlich noch so lange zu leben. Ich habe sie schließlich angerufen. Sie hat sich erneut bedankt, wieder und wieder. Bis ich mich verplappert habe. Bis ich ihr gesagt habe, dass ich gesehen hätte, was passieren würde.«
    »Und?«
    »Ich habe gedacht, sie würde schallend Lachen und auflegen, aber das hat sie nicht getan. Sie hat mich gefragt, ob ich mir sicher wäre. Ich habe gesagt 'Ja, leider'. Dann hat sie gefragt, ob ich zuhause wäre. Ich habe aufgelegt, aber sie ist trotzdem rüber marschiert. Sie wohnte gar nicht weit weg.«
    Ich hatte damals nicht gewusst, warum ich es ihr erzählt hatte. Es war mir rausgerutscht, ja, aber ich hätte mich danach noch rausreden können. Irgendwie. Das hatte ich nicht getan, und Frau Berger und ich wussten, dass mein Schweigen so etwas wie ein Hilfeschrei gewesen war. Ein Schrei, über den wir nie gesprochen hatten, der aber trotzdem gehört worden war.
    »Du hast sie scheinbar eingelassen.«
    »Ja. Sie war ganz kühl. Geschäftsmäßig. Hat Fragen gestellt. Wie das funktioniere. Ob ich ihr etwas sagen wolle, damit sie das überprüfen könne.

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