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Tödliches Orakel

Tödliches Orakel

Titel: Tödliches Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tina Sabalat
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sie nicht gehört, aber sie mich. Der Mann hat seinen Mantel ausgezogen und mich darin eingewickelt. Ich habe die Augen aufgemacht, habe ihn angesehen.«
    Ich zögerte, straffte mich dann.
    »Er war ganz hager. Ausgezerrt. Er hatte keine Augenbrauen und keine Wimpern. Keine Haare. Von einer Chemotherapie, aber das habe ich damals natürlich nicht begriffen. Ich habe ihn angestarrt, als käme er von einem anderen Stern. Dann hat er mich ... gefressen. Ich war erst in seinem Mund, das war noch okay. Erschreckend, aber okay. Der Mund war warm und weich – nicht unangenehm, weil mir immer noch so scheußlich kalt war. Aber auch kein Platz, an den man bei einem fremden Menschen sein möchte.«
    Sam nickte, synchronisiert tranken wir von unserem Wein.
    »Ich bin von seinem Mund in den Hals gewandert. Am Zäpfchen vorbei. Es wurde eng und enger, als ich durch die Speiseröhre gerutscht bin. Da roch es schon weniger angenehm, ich musste wieder würgen. Der Geruch wurde noch schlimmer, als ich in den Magen fiel. Ein alter, müder Magen. Ich landete mit dem Gesicht in halb verdautem Essen, matschigen Möhren, zersetztem Fleisch, ganz faserig. Ich habe gespürt, wie es mich in meinem eigenen Hals kitzelte, weil das so ... ekelhaft war. Als würde ich in fremder Kotze baden. Ich habe versucht, mich zu bewegen, mich aus diesem Schleim zu befreien, habe versucht, die Augen von dem Gesicht des Mannes zu lösen, aber es ging nicht. Ich wollte schreien, um Hilfe bitten, damit sie mich da raus holen, raus aus diesem Schlamm, aber ich konnte nicht: Wenn ich den Mund geöffnet hätte, wäre mir diese saure Brühe aus dem Magen des Mannes hineingelaufen, und dann hätte ich ihm direkt in den Magen gekotzt. Mir war so schlecht und das Ganze war so surreal - ich habe gedacht, ich halluzinierte. Und dann ... dann wurde das Schwarze, Schleimige plötzlich ganz leicht und weiß.«
    Ich seufzte, denn ich konnte das, was dort zum ersten Mal mit mir passiert war, nicht gut in Worte fassen. Es würde entweder belanglos klingen, was es nicht war – oder übersteigert poetisch. Und: Diesen Teil der Geschichte hatte ich erst einmal erzählt. Frau Berger. Das war nichts, was man einer Polizeibeamtin mit skeptischem Blick und Augenringen von zu vielen Nachtschichten anvertraute.
    »Es sah aus, als würde eine Sonne das Schwarze vertreiben, eine helle, warme Sonne. Wie wenn die Dunkelheit geht, wenn der Tag kommt – nur schneller, viel, viel schneller. Ganz plötzlich. Als hätte jemand auf den Lichtschalter gedrückt. Ich war nicht mehr im Magen, aber immer noch in dem Mann. In irgendetwas Leichtem, Sauberem.«
    »In seiner Seele?«, fragte Sam fast ehrfürchtig, ich lächelte.
    »Vielleicht. Ich wusste es nicht, und ich weiß bis heute noch nicht so genau, was kommt, wenn ich den Magen hinter mir habe. Aber es ist schön, bei allen Menschen, ausnahmslos allen. Aber es ist auch bei allen Menschen gleich, und die Seelen der Menschen stelle ich mir dann doch unterschiedlich vor. Ich glaube, was ich da sehe, ist so etwas wie ... das Gefäß, in dem das Leben liegt. Ein weißer Raum, ganz blank und leer, der erst gefüllt werden muss. Mit Leben. Mit dem individuellen Leben. Meinetwegen mit der Seele.«
    Sam nickte.
    »So habe ich mir das jetzt zusammengereimt«, sagte ich. »Damals hat das Weiße mich geblendet, und erst, als meine Augen sich daran gewöhnt hatten, habe ich gesehen, dass es gar nicht so leer war, wie ich zunächst gedacht hatte. Es war bevölkert von Szenen, Szenen mit Menschen, Straßen, Räumen – Szenen aus dem Leben, aus dem Alltag. Ich habe den Mann ohne Haare essen gesehen, ich habe ihn schlafen gesehen. Ich sah ihn seinen Dackel streicheln, eine grauhaarige Frau küssen, spazieren gehen. Sich anziehen, essen, duschen, zur Toilette gehen, einkaufen. Ich sah ihn viele Tabletten nehmen. Ich sah ihn in einer Arztpraxis, ich sah ihn in einem Krankenhaus. Ich sah, wie sein Herz knarrte und zuckte, wie es stillstand. Dann verschwand das Weiße genauso schnell, wie es gekommen war, zurück blieb nur ein kleiner Lichtpunkt über mir. Wie ein einzelner Stern am Himmel. Ich fühlte mich unendlich schwach, aber ich wusste irgendwie, dass ich hochspringen muss, um aus diesem Magen hinauszukommen. Ich hab ein paar Versuche gebraucht.«
    »Das Licht am Ende des Tunnels!«
    Ich bejahte und fuhr fort. »'Sie werden in drei Monaten sterben', habe ich gesagt, als das Weiße um mich verschwunden war. Der Mann hat mich nur erstaunt angesehen. 'Drei

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