Tödliches Orakel
immer zu Frau Berger gehe, wenn ein Kunde kommt. Sonst kommen die Nachbarn auf die gleichen dummen Gedanken wie du. Was meine Arbeit angeht.«
Sam senkte schuldbewusst den Blick.
»Frau Berger gibt sich als Fußpflegerin aus«, fuhr ich fort. »Als Fußpflegerin in Rente, die nur noch ein paar Stammkunden empfängt und sich so etwas dazu verdient.«
»Offiziell.«
»Genau. In Wirklichkeit hat sie nie einen einzigen Kunden gehabt. Die kommen alle zu mir. Sie ist auch keine Fußpflegerin, allerdings musste sie ein Buch drüber lesen und einen Kurs besuchen, falls eine ihrer neuen Freundinnen fragen sollte.«
»Also weiß keiner, dass du hier wohnst?«
»Nein. Niemand.«
»Aber die Leute sehen dich doch trotzdem mal. Wie der Bengel von gegenüber.«
»Ich versuche, das zu vermeiden.«
»Wer bist du, wenn jemand fragt?«
»Eine Nichte von Frau Berger. Ich schreibe einen weltbewegenden Roman und wohne in ihrer Einliegerwohnung. Als solche ist das Haus hier eingetragen.«
Sam lachte. »Frau Bergers Haus passt in dein Wohnzimmer!«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Sie wollte es genauso. Von der Farbe bis zu den Fenstern und Fliesen. Anzahl der Zimmer, Größe des Gartens. Sie wusste sehr genau, was sie wollte.«
»Zahlt sie Miete?«
»Nein. Das Ganze hier gehört mir, aber sie hat lebenslanges Wohnrecht. Sie zahlt ihr Essen, Kleidung, ihr Auto. Ferien.«
»Hundefutter.«
»Genau. Den restlichen Unterhalt bestreite ich. Strom, Heizung, Wasser, Versicherungen und so etwas.«
»Großzügig.«
Sam schien seine Meinung des Öfteren zu ändern: Eben war ich noch knauserig gewesen, jetzt großzügig. Ich fand mich in der Mitte ganz gut untergebracht.
»Sie hat viel für mich getan. Und sie tut noch immer viel.«
»Sie ist dein ... Schild.«
»Ja.« Ich nickte, denn das traf es ziemlich genau.
Sam schwieg, sah wieder in die Flammen seines Feuers.
»Findest du das traurig?«, fragte ich und meinte mein Leben im Großen und Ganzen.
Sam dachte nach, schüttelte dann den Kopf.
»Nein. Du siehst nicht unglücklich aus. Und du hast ganz schön was mitgemacht. Aber ich verstehe nicht, warum du dich so abschottest. Am Anfang war das Kotzen, okay. Aber jetzt? Ich bin schon fast eine Stunde hier, und der Fußboden ist immer noch sauber.«
»Ich sehe immer, wenn ich Menschen anschaue. Ich kann nicht nur auf der Oberfläche bleiben. Ich kann es mittlerweile ganz gut stoppen, aber ich sehe noch Stunden. Und ich will nicht wissen, was die Leute in dieser Zeit tun.«
»Und deswegen gehst du nie aus?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Wegen der Leute«, sagte ich, fand das aber offensichtlich angesichts des bisherigen Gesprächs.
»Du gehst nicht mal ins Kino?«
»Nein. Menschen essen und trinken im Kino. Hunderte von Menschen. Popcorn, Eis. Cola, Bier. Und die Augen geschlossen halten ist nicht im Sinne des Kino-Erfinders. Ohren zuhalten auch nicht.«
»Also ist Essengehen auch nichts für dich.«
»Nein.«
»Tanzen? Club?«
»Zu viele Leute, die Blickkontakt suchen. Ich kann Männer ertragen, die mir auf die Oberweite starren, aber nicht Typen, die mir ganz aufgeklärt sagen wollen, ich hätte schöne Augen.«
»Du hast aber schöne Augen.«
»Danke.«
»Shoppen?«
»Internet.«
»Was machst du, wenn du zum Zahnarzt musst?«
»Musste ich bisher nicht, ich habe gute Zähne.«
»Und wenn du Urlaub hast? Bleibst du dann auch hier?«
»Ja. Aber ich vermisse es. Das Reisen.« Ich dachte an den Japan-Bildband. »Ich vermisse es ganz schrecklich.«
»Sex?«
Ich schwieg. »Nein. Ich kann niemanden küssen, in dessen Magen ich bin. Und es macht keinen Spaß, wenn ich schon vorher weiß, dass er nach zwei Minuten fertig ist.«
Sam lachte. »Du müsstest nur die Augen zumachen. Oder ihm eine Skimaske überziehen.«
Ich starrte auf das Feuer, Sams Lachen verklang.
»Das ist nicht witzig, oder?«
»Nein.«
»Tut mir leid.«
»Schon okay.«
»Also gehst du nicht aus. Aber warum lebst du hier so allein? Und ich meine nicht dich und Frau Berger. Oder diesen dicken Dackel. Ich meine einen Freund.«
Ich seufzte, weil ich gedacht hatte, dass sich das von selbst erklären würde.
»Zwei Gründe. Erstens: Ich habe eben schon gesagt, dass ich nicht wissen möchte, wann meine Eltern sterben. Genau so wenig möchte ich wissen, wann mein Ehemann stirbt. Und zweitens: Bei Leuten, die ich auf der Straße treffe, sehe ich Leben, die mit meinem nichts zu tun haben. Bei Menschen, mit denen ich mich umgebe, da sehe ich auch,
Weitere Kostenlose Bücher