Tödliches Orakel
gelogen. Aber etwas verschwiegen hast. Du hast mir gesagt, dass ich den 10. August überlebe, und ich habe mich gefragt, was mit den Tagen danach ist. Aber ich habe mir auch gedacht, dass es dich nicht so schocken würde, wenn ich am 11. oder 12. sterbe. Du hast mich schon einmal sterben sehen, ob das jetzt einen Tag später doch noch passiert, wäre ja nicht so aufregend. Also musste es etwas anderes sein.«
Er vertilgte noch ein paar Trauben.
»Darf ich noch etwas fragen?«
»Bitte.«
»Wie wärst du gestorben? Du hast schon gesagt, dass du erschossen worden wärst.«
»Du hättest mich am 10. August angerufen und angebettelt, mitzukommen. Damit du auf Nummer sicher gehen kannst. Damit nichts schief geht.«
»Das hätte ich niemals getan!«
»Doch. Warum auch nicht? Ich war ja nie in Gefahr. Und dass ich getroffen werde …« Ich stockte, erinnerte mich an diese grauenhafte Zukunftsvision meines Todes. »Es war ein Unfall. Er hat dich provoziert und wütend gemacht, dann bist du auf ihn los. Er hatte die Waffe in der Hand, der Schuss löste sich im Gerangel.«
»Scheiße. Also wäre ich schuld gewesen.«
Ich betrachtete das knisternde Feuer und konnte nicht mit einem Nein antworten. Draußen prasselte der Regen immer noch in dicken Tropfen gegen die Fenster, sirrten Blitze durch die Luft, ließ Donner die Glasscheiben in immer kürzeren Abständen erbeben: Das Gewitter kam näher.
»Aber jetzt? Die Zukunft hat sich doch geändert. Weil ich deinen Schock gesehen habe. Weil ich hergekommen bin. Weil ich Zweifel hatte. Und weil du mir erzählt hast, dass du sterben kannst bei dieser Sache. Jetzt würde ich dich doch nicht mehr mitnehmen. Und schon gar nicht mehr anfangen, mich mit diesem Typen zu prügeln.«
»Ich weiß nicht, wie es jetzt endet. Ich habe dich das letzte Mal bei unserer Sitzung richtig angesehen.«
»Aber du hast doch eben gesagt, dass ich eine Beule bekommen würde. Wenn ich draußen bleiben würde.«
»Ja.«
»Also hast du gesehen, was passiert.«
Ich lächelte in meinen exotischen Weinmix. »Nicht so weit. Ich kann aussteigen, wenn ich eine bestimmte Stelle erreicht habe. Ich kann auch weiter spulen. Sachen nicht wirklich beachten. Eben habe ich mit morgen früh aufgehört.«
»Also weißt du nicht, ob du immer noch stirbst? Oder ob ich jetzt wieder dran bin?«
»Richtig. Und weil ich bei unserer Sitzung nur bis zu meinem eigenen Tod sehen konnte, konnte ich dir auch nicht sagen, wie lange du danach noch leben wirst. Ob sie dich auch schnappen, bedrohen oder Ähnliches. Was du ja wissen wolltest, als du zum ersten Mal hier eingedrungen bist.«
»Und du warst bereit, das Risiko einzugehen? Dass du stirbst, ich vielleicht auch? Nur um zu sehen, ob du was über dein eigenes Leben voraussagen kannst?«
»Ja.«
Sam brach ein Stück Käse ab, kaute nachdenklich darauf herum. Ich erwartete die Bitte, ihn anzusehen, festzustellen, wem jetzt der Tod drohte, aber er sagte nichts davon.
»Was meintest du eben mit 'Spulen'?«, fragte er stattdessen.
»Ich sehe, was Leute tun. Was mit ihnen passiert.«
»Ja.«
»Auf der Toilette sitzen ist eine Tätigkeit. Am offenen Herzen operiert werden passiert mit einem. Beides möchte ich nicht zu genau sehen. Sex auch nicht.«
»Das kann ich verstehen. Und was geschieht bis morgen mit mir? Jetzt, wo du mich reingelassen hast?«
»Ich weiß es nicht.«
Sam stöhnte. »Du machst mich wahnsinnig. Du hast gerade gesagt, dass du bis morgen früh alles gesehen hast!«
Sam stellte sein Weinglas ab, angelte sich meine Zigaretten vom Tisch und entzündete zwei. Eine gab er mir. Ich nahm sie, obwohl ich wusste, dass er sie schon in seinem Mund gehabt hatte. In dem Mund, mit dem er Käse und Trauben gekaut hatte.
»Für jemanden, der allsehend ist, sagst du verdammt oft 'Ich weiß es nicht'.«
Er klang müde, ich lächelte.
»Ich weiß es nicht, weil ich manipuliert habe. Absichtlich. Nachdem ich gesehen habe, was bis zum Morgen passiert. Das habe ich doch eben gesagt: zwei Manipulationen. Und seitdem ich das getan habe, sehe ich dich nicht mehr an.«
»Warum hast du manipuliert? Hat es dir nicht gefallen, wie es bis morgen weiter gegangen wäre?«
Ich dachte an den Kuss, der Bestandteil jeder Variante gewesen war – aber das brauchte Sam nicht zu wissen.
»Ich habe es getan, damit ich nicht deine Sätze mitsprechen kann. Damit es interessant bleibt.«
»Okay.« Sam nickte, als wäre das ein guter Grund. »Ich verstehe. Wann hast du
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