Tödliches Orakel
und eine Gänsehaut schoss mir den Rücken hoch, als ich Sams Atem auf meiner Wange spürte, dann kitzelte etwas meine Nase.
»Mach die Augen auf, aber beweg den Kopf nicht.«
Ich tat wie mir geheißen und sah aus sechs, sieben Zentimetern in Sams türkisblaue Augen.
»Und?«, flüsterte er, »siehst du was?« Sein Atem roch nach den Weintrauben, frisch und fruchtig.
»Deine Augen. Ein Stück von deiner Nase. Deine Augenbrauen.«
»Aber nicht, was passieren wird?«
»Nein.«
»Siehst du?« Er schien zu lächeln, denn seine Augen wurden etwas schmaler, etwas schräger. »Geht doch!«
»Ich soll also auf zwei Zentimeter an den Kinokartenverkäufer heranrücken, damit ich seinen Mund nicht sehe«, sagte ich, Sam lachte leise.
»Ich dachte an andere Sachen. Sachen, die du vielleicht auch vermisst, und die man auch eher ... zu zweit macht. Bei denen Nähe unbedingt erforderlich ist.«
Ich ahnte, auf was er hinaus wollte, und nahm jedes kleine Detail auf, das in Reichweite meiner Augen kam: die feinen Wimpern, die kleinen, schwarzen Punkte im satten Türkis seiner Iris.
»Wie ist dein richtiger Name?«, flüsterte Sam.
»Wozu willst du das wissen?«, fragte ich, er antwortete, nachdem ein scheinbar endlos langer Donner die Fenster hatte beben lassen.
»Phytia ist so hart. Das P, das T. Man kann diesen Namen nicht leise sagen. Man kann ihn nicht ... flüstern.«
Aus meiner Gänsehaut wurde ein Ganzkörperprickeln, und als er mich auf den Mund küsste, machte ich die Augen wieder zu, auch wenn das ja erwiesenermaßen gar nicht nötig war. Sam war ganz vorsichtig, als hätte er Angst, ich würde kaputt gehen, als wäre ich aus Glas – ich war ihm dankbar dafür, denn es war Jahre her, und ich war ziemlich aus der Übung. Er legte mir eine Hand auf den Rücken, drückte mich an sich. Ich ließ ihn und wusste noch immer nicht, ob ich das wirklich wollte. Sollte. Dass ich konnte, war erwiesen.
Als er mich losließ, drehte ich mich sofort um und stand auf. Sam hockte auf dem Sofa, ich starrte auf sein Spiegelbild in der großen Glasscheibe.
»Was hast du?«, fragte er.
»Es ist spät«, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen konnte. »Ich sollte schlafen gehen.«
»Kann ich mitkommen?«, fragte er, und zu meinem Erstaunen sah ich mein eigenes Spiegelbild nicken.
Tag 10 – Mittwoch, 9. August
»Nehmen Sie die mit«, sagte Frau Berger, als sie am nächsten Morgen einen Kunden zur Tür geleitet hatte und ich gerade mein System herunterfuhr. Sie streckte mir eine Bäcker-Tüte entgegen. Es duftete daraus, warm und butterig und süß. Ich hatte gerade mehrere Blicke in den mit Müsli gefüllten Magen einer mittelalten Dame werfen müssen, die nicht hatte akzeptieren wollen, dass es in ihrem Leben weit und breit keinen Mann gab, der auch nur den leisesten Funken von Interesse für sie aufbrachte – jetzt sorgte allein der Geruch des Gebäcks dafür, dass ich mich angeekelt schütteln musste.
»Nehmen Sie das weg.«
»Nein, Sie nehmen das mit.«
Ich ignorierte die Tüte, atmete durch den Mund, knipste das Licht aus und schloss die Tür zum Konsultationszimmer.
»Sie müssen sie ja nicht essen. Sie sollen sie ihm nur geben.«
»Was ist das?«
»Croissants. Er isst sie sehr gern.«
»Er isst alles gern.«
Ich ging durch den Flur, Frau Berger folgte mir.
»Nein«, entgegnete sie, »er mag keinen Blumenkohl. Den musste er zuhause immer essen.«
Ah, hatte Sam Frau Berger schon aus seiner Kindheit erzählt. Sehr schön. Mir hatte er nicht mal erzählen wollen, was er studiert hatte und wo.
»Es ist gut, dass Sie ihn eingelassen haben«, sagte Frau Berger, als ich die Tür zum Durchgang zwischen unseren Häusern schon geöffnet hatte.
»Woher wissen Sie das?«
Kasimir trippelte aus der Küche heran und positionierte sich zielgenau unter der Bäckertüte, wahrscheinlich in der Hoffnung, sie werde auf wundersame Weise reißen und ihren Inhalt in seine Schnauze entleeren.
»Ich habe ihn angerufen«, sagte Frau Berger. »Eben. Als Sie Ihren Termin hatten. Wegen des Sturms. Er war gerade auf dem Weg zu seiner Wohnung.«
Mein Magen registrierte das mit dem leichten Absacken der Enttäuschung: Sam war also weg. Nachdem er in der Nacht selbstverständlich die eine Hälfte meines Bettes okkupiert hatte, nach ein paar schweigenden Minuten dann die andere Hälfte meines Kissens. Er hatte mich eng an sich gezogen, sodass ich seine in der Dunkelheit glänzenden Augen hatte sehen können, und er hatte
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