Tödliches Paradies
Mauer. Und natürlich der Gedanke, daß unter solchen Bäumen, hinter diesen Mauern einmal alles enden wird …
Seine fast schon pathologische Abneigung gegen Friedhöfe teilte Tim mit den meisten Medizinern. Schließlich: Was war sein Leben schon anderes, als Jahr um Jahr vierundzwanzig Stunden und sechsundfünfzig Wochen gegen den Friedhof anzurackern?
Bei Melissa biß er auf Granit: »Die Brandeis? Nach München? Und auch noch zum Nordfriedhof?! Na, hör mal, ist das dein Ernst?«
»Ach, Melissa!« – Sie hatte gerade noch die Wäsche reingebracht, nicht rechtzeitig vor dem Regen, aber beinahe. Nun streifte sie ihr feuchtes, blaues Hauskleid ab, stand da, langbeinig, zornig, in weißer Glätte, nichts am Leib als Slip und BH. Sommersprossengesprenkel auf zarten Schultern. Und sprühendrotgoldene, jetzt regenfeuchte Locken! Wenn er trotz der Widrigkeiten, die das Leben so brachte, unbeirrt fest an ein exklusives, fabelhaftes und nur ihm zugedachtes Tim-Tannert-Glück glaubte, so war das Melissa zuzuschreiben. Oder besser, der unfaßbaren Tatsache, daß ein solches Wesen aus dem Märchenbuch sich für ihn entschieden hatte. Ach, seine Melissa …!
Nun – Helene Brandeis hatte ja recht – erwartete sie der erste Hochzeitstag.
»Ein fabelhaftes Angebot, hat sie gesagt?«
In Melissas Augen, Augen von einem so unbeschreiblichen Grün, daß er stets andächtig wurde, erwachten winzige Lichter. Sie tanzten. Lichter des Zorns. Und schon blähten sich auch die Nasenflügel. »Ist ja riesig! Ein Angebot …! Und ich, was bin eigentlich ich für dich? Wenn's schon regnet, dann …«
Sie ließ den Rest unausgesprochen. Sie griff, wie immer, wenn sie um die Beherrschung kämpfte, nach einer ihrer rotgoldenen Locken und wickelte sie erbittert um den Zeigefinger. Melissa – nichts als weißhäutige, grünäugige Empörung:
»Du willst also tatsächlich …?«
Natürlich wollte Tim nicht. Aber genauso natürlich behielt die Oberhand, was Melissa seine ›geradezu charakterlose Gutmütigkeit‹ nannte. Eine verzweifelte Helene Brandeis?! Schon das kaum vorstellbar, aber eine Helene Brandeis, die gerade auf dem Friedhof im Regen gestanden hatte, eine alte Frau, die um Hilfe flehte und dazu noch ihre Bitte mit verrückten Angeboten bereicherte, sie allein zu lassen – wie war denn das zu schaffen? Wer brachte das übers Herz?
Ein Tim Tannert doch nicht.
Naß und schwarzrot glänzte die Backsteinmauer. Tim sah von weitem die von ihm so gehaßten Friedhofsbäume und am Eingang eine Gruppe schwarzer Regenschirme.
Er stieg aus und versuchte sich zu orientieren. Drüben auf der anderen Seite der breiten Straße waren die Friedhofsgärtnerei, Grabsteinbildhauer, Sarggeschäfte … Nicht gerade die Umgebung für jenen Italiener, den sie als Treffpunkt genannt hatte. Und doch – tatsächlich, dazu auch noch direkt unterm Halteverbot, sah er einen Wagen, den er kannte: Ein nougatbrauner Uralt-Mercedes mit rundgeschwungenem majestätischen Hintern. Eine richtiggehende Adenauer-Karosse: Helene Brandeis' Daimler. Sie liebte ihn. Sie ließ ihn von einem Mann, der auch noch Ernst Putzer hieß und in der Hügelvilla als Faktotum diente, täglich wienern. Überdies hatte der Daimler auch noch einen respektgebietenden Namen bekommen: ›Sir Henry‹. An den Tagen aber, an denen die alte Dame Sir Henry selbst steuerte, verwandelte er sich in den Schrecken des Landkreises. Verkehrspolizisten nahmen vor ihm mit einem Hechtsprung Reißaus, keine rotgeschaltete Ampel, die nicht mißachtet wurde, kein Parkverbotsschild, unter dem er nicht gemütlich auf die Chefin wartete.
Dies schien ein solcher Augenblick zu sein.
Und gleich hinter Sir Henrys nougatbraunem Dach las Tim es nun: Ristorante.
Na also. Da saß sie auch, am letzten Tisch, in der letzten Nische, halbverdeckt von einer Gesellschaft in schwarzen Mänteln, Hüten, Anzügen. Naß. Naß waren sie alle.
»Hallo! Hier rüber, Tim!«
Tim schob feuchte Mäntel zur Seite.
Helene Brandeis' schwarzes Kleid wurde dramatisch gesteigert durch das Kornblumenblau ihrer Augen, durch die vielen weißen Löckchen mit einem vornehmen Blaustich und dem weißen Kragen mit der Gemme am Halsausschnitt: Sie hatte irgend etwas vor sich stehen. Schräg und unentschlossen steckte ein Löffel darin. Im Aschenbecher qualmte der unvermeidliche Zigarillo Marke ›Rosana‹. Sie griff danach. »Setz dich, Doktor! Schön, daß du da bist. Wie war die Fahrt?«
»Schlimm. Wolkenbruch bis
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