Tödliches Paradies
Zwanzig, vielleicht dreißig Minuten …? Er hatte versäumt auf die Uhr zu sehen, als der Hubschrauber abhob. Er kauerte auf dem schmalen, unbequemen Plastiksitz, vor sich die breiten Schultern des Brigada, der die Maschinenpistole auf seinen Oberschenkeln hielt. Ganz vorne die beiden orangefarbenen Schutzhelme der Hubschrauberbesatzung.
Wieder knatterte es im Lautsprecher. Der Pilot gab seine Meldungen. In regelmäßigen Abständen tauschte er spanische Sätze mit seiner Leitstelle aus.
Die Seitenwände der Maschine bestanden aus gewölbten, beweglichen Plastikschalen. Die rechte war zurückgeschoben. Der Fahrtwind fauchte herein. Er zerrte an Tims Haaren und erfüllte die enge Kabine mit dem Pfeifen der Turbine und dem Geruch nach Benzin und Auspuffgasen.
Unten aber, auf der blauen, von der tiefer stehenden Sonne nun goldüberglänzten Fläche der See – unten, dreihundert Meter tiefer vielleicht, krebsten über das tiefblaue, fast schwärzliche Wasser Spielzeugschiffe …
Es war ein schönes Bild, ein fröhliches Bild. Und Tim dachte daran, wie Melissa ihm beim Start nach Mallorca noch auf dem Flughafen in Riem eines der ›heiligen Versprechen‹ abgenommen hatte, auf denen sie so eifrig und mit dem tiefen Ernst eines Kindes zu bestehen pflegte.
»Wir fahren aber raus, mit 'nem Schiff, Tim Tannert! Das ist abgemacht, klar?«
»Klar. Ich miete mir ein Tretboot.«
»Von wegen Tretboot!«
»Dann ein Boot mit Motor.«
»Auch nicht.«
»Was mit Segeln dran, Tim!«
»Ich kann doch gar nicht segeln. Und auf dem Meer! Bist du verrückt?!«
»Wenn du schon in 'nem Millionärs-Hotel wohnen willst, Tim Tannert, und keinen Pfennig dafür zu zahlen brauchst, dann kannst du dir ja wohl für einen und zwei Tage ein Boot mit Besatzung leisten. Und wenn es nur ein einziger Seemann ist?«
»Okay.«
»Heiliges Versprechen?«
Und er hatte genickt.
Ein Boot mit Besatzung …?
Jetzt hatte sie es, ihr Boot mit Besatzung! Der Gedanke daran war wie ein Stich ins Herz.
Die Turbine veränderte ihren Ton, wurde noch heller, kraftvoller. Die ›Bel‹ legte an Geschwindigkeit zu, den plexiglasverkleideten Hornissenkopf nach unten gesenkt, stürmte sie vorwärts.
Sie waren bisher stets geradeaus geflogen, so wenigstens erschien es Tim, der sich ab und zu orientierte, indem er zurück zur Küste sah, wo sich die Berge von Capdepera im Dunst auflösten. Nein, es gab kein Zögern, keine Suchkreise, es ging immer geradeaus.
Er legte Rigo die Hand auf den Arm, beugte sich nach vorne und rief in Rigos Ohr: »Wo fliegt denn der hin?«
»Na, wo schon?«
»Ja, kennt er denn die Position?«
Rigo schüttelte den Kopf. »No. Aber die Richtung. Die da unten kennen sie.«
Die da unten? Die Hand des Brigada wies auf die Boote: »Pescadores. Fischer. Eine ganze Flottille. Die ›Melissa‹ ist mit Volldampf durch ihr Fanggebiet. Sie haben sich schwer geärgert, und als dann die Küstenwache anfragte, haben die sich den Kurs zusammengebastelt.«
Das also war es …
Tim lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er hätte jetzt gerne eine Zigarette geraucht, aber das ging wohl nicht. Er würde das hinter sich bringen. Und das Rauchen wieder aufgeben. Ja, er würde es hinter sich bringen! Auch dieses wunde, schmerzende, angespannte Gefühl, das sein Gehirn vibrieren ließ und jeden Anflug von Müdigkeit und Erschöpfung verscheuchte.
Vielleicht war es auch die Furcht …? Was würde geschehen in fünf, in zehn, in zwanzig Minuten? Vor allem: Was würde mit Melissa geschehen? Melissa auf der Yacht ›Melissa‹ …
Wahnsinn war das doch! Schrecklicher, verrückter, irrsinniger Wahnsinn, der sich als Realität kostümierte …
Da erlebte er nun die schlimmste Erfahrung seines Lebens und mußte zugleich erkennen, daß sie ihm nicht nur schrecklich, sondern auch grotesk erschien …
Es war nun das zweite Mal, daß sich Melissa aus der dumpfen, sumpfigen Umklammerung der Psychopharmaka zu befreien und die ersten Signale ihres erwachenden Bewußtseins zu entziffern suchte: Gedankenfetzen. Bilder. Dann Geräusche … Das klopfende Brummen eines schweren Motors, ganz fern nur. Ein Wiegen, das sich wie ein Gewicht auf ihren Körper legte – und das Klatschen von Wellen …
Sie zog die Ellbogen an, um sich aufzusetzen. Ihre Sehnerven begannen zu arbeiten. Ihr Mund war trocken, die Kehle auch, die Schläfen schmerzten, aber sie nahm ihre Umgebung endlich wahr: Schimmernde Mahagonifurniere, zwei Ledersessel, einen Einbauschrank, und wenn
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