Tödliches Rätsel
Sanctus-Mann zum Vorschein kommen! Wie gern würde ich ihn beim Kragen packen!«
»Nein, Sir John, Ihr müßt mir Euer Wort geben, daß er ohne Furcht kommen und gehen kann«, sagte Athelstan flehentlich.
»Oh, du hast mein Wort«, sagte der Coroner. »Aber der Sanctus-Mann ist auch so ein eingefleischter Gauner. Fünfzehnmal hat er Christi Dornenkrone verkauft. Wie er es schafft, die Leute um ihr Geld zu bringen, ist an sich schon ein Wunder.«
»Zur Vesper also?« beharrte der Vikar der Hölle.
Cranston willigte ein. Athelstan machte ein Kreuzzeichen, und dann wanderten sie durch die Höhlengänge von Newgate zurück zum Wärterhaus. Cranston trat in die kleine Amtsstube. Als er wieder herauskam, grinste er von einem Ohr zum anderen.
»Unser Vikar ist frei, Bruder — das heißt, er ist es in einer Stunde.«
»Wird er sein Wort halten?«
»Oh ja. Solche Leute halten ihr Wort. Der Sanctus-Mann wird da sei. Aber jetzt zu Master Alcest...«
Cranston und Athelstan gingen durch Westchepe und die Friday Street hinunter zu den Kähnen, die unten am Landungssteg warteten. Sie bestiegen einen davon, die Bootsleute legten sich in die Riemen, und der Kahn fuhr in die Flußmitte hinaus.
»Glaubst du, Alcest wird gestehen?« fragte Cranston, nachdem er es sich im Heck bequem gemacht hatte.
»Vielleicht«, sagte Athelstan. »Wir wissen, er ist ein Urkundenfalscher, aber ob er auch ein Mörder ist...?« Athelstan lehnte sich zurück und schloß die Augen.
»Du willst doch jetzt nicht schlafen, Bruder?«
»Nein, Sir John. Wir nähern uns der London Bridge, und wenn wir unter den Bögen durchfahren, vollführt mein Magen jedesmal einen Tanz.«
»Oh du Kleingläubiger«, scherzte Cranston. »Warum hast du solche Furcht vor dem Tode?«
»Habe ich ja nicht, Sir John.« Athelstan lächelte. »Ich fürchte nur das Ertrinken.«
Der Coroner beugte sich vor und fing an, sich freundlich mit den beiden Bootsleuten zu unterhalten und sie gutmütig zu necken. Als sie sich der Brücke näherten, setzte auch Cranstons Herz einmal aus: Das Wasser brodelte wie Öl in einem Topf, wo es unter den schmalen Bögen der Brücke hindurchströmte. Das Rauschen schwoll zu einem Donnerbrüllen an. Cranston verlor seine Wette mit den Bootsleuten, denn als sie hindurchschossen, um Haaresbreite vorbei an den hölzernen Balkengerüsten, die zum Schutz der Steinpfeiler dienten, da schloß er wie jedermann die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie in das ruhige Wasser bei Botolph’s Wharf gelangten. Die Fahrt wurde langsamer. Schließlich wandte die Barke sich dem Ufer zu und glitt am Fischmarkt von Billingsgate vorbei, wo es nach Hering und Dorsch, nach Tang und Salz stank. Am Woolquay gingen sie an Land. Über ihnen ragte der Tower mit seinen hohen Mauern und Bollwerken, Zinnen und Bastionen empor. Selbst an diesem sonnigen Tag hatte die mächtige Festung etwas Bedrohliches und Abweisendes. Athelstan mochte diesen Ort nicht, den er schon oft hatte besuchen müssen, wenn er zusammen mit Sir John einem Mörder auf der Spur gewesen war.
»Ein bedrückender, grausamer Ort«, murmelte er. »Mögen der Hl. Dominikus und alle Engel uns rasch hinein und wieder heraus befördern, denn Mord und Totschlag lauern immer hier.«
Sie überquerten die Zugbrücke. Der Graben darunter war mit schmutzig grünem, schleimigem Wasser gefüllt, das schlimmer stank als jeder Misthaufen in der Stadt. Sie gingen unter dem schwarzen Bogen des Middle Tower hindurch. Das mächtige Tor klaffte wie ein offenes Maul, das halb herabgelassene Eisengitter wie gebleckte Zähne. Von oben grinsten die abgeschlagenen Köpfe zweier Verbrecher auf sie herab und verfaulten in der Sonne.
»Gott schütze uns«, betete Athelstan, »vor allen Teufeln, Dämonen, Skorpionen und bösen Geistern, die hier hausen.«
Eine Wache stand unter dem schmalen Torbogen, um sich vor der Sonne zu schützen.
»Sir John Cranston, Coroner!« brüllte Cranston. »Ich habe königliche Vollmacht, und dies ist mein Schreiber, Bruder Athelstan, der um seiner Sünden willen auch Gemeindepfarrer von St. Erconwald in Southwark ist. An einem Ort« — Cranston legte eine Pause ein und grinste Athelstan an — , »wo Tugend und Laster Hand in Hand wandeln, wie der Sanctus-Mann bald zeigen wird.«
Zur Antwort räusperte einer der Wachposten sich geräuschvoll und spuckte dann haarscharf an Cranstons Stiefel vorbei. Der Coroner machte drohend ein paar Schritte auf ihn zu. Der Kerl lächelte gezwungen,
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