Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
aufzuklären. Der Oberinspektor hatte die Anrufe ja nur wegen Shanshan zurückverfolgen lassen. Aber der junge Polizist sollte ruhig glauben, er habe in ihm einen Sherlock Holmes vor sich, bei dem jeder Handlungsschritt genau geplant war.
»Übrigens sitze ich schon im Wagen, Chef. Gleich werden wir Jiang im Präsidium abholen. Deshalb muss ich jetzt Schluss machen, aber ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«
»Danke, Huang.«
Erst nachdem Chen das Handy auf den Tisch gelegt und einen Schluck Tee getrunken hatte, fiel ihm der Kurierbrief in seiner Jackentasche wieder ein. Er schnippte seine Zigarettenasche in einen muschelförmigen Aschenbecher. Von wem der Brief wohl war?
Als er den Umschlag öffnete, richtete er sich ruckartig auf.
Lieber Chen,
ich schreibe diesen Brief, weil ich es nicht über mich bringe, von Dir Abschied zu nehmen. Dennoch wissen wir beide, dass ein Ende unausweichlich ist.
Wenn ich zurückblicke, so war es wohl in der Nacht bei Dir, dass mir diese Erkenntnis kam – unbewusst, wie Du sagen würdest. Schon bei unserer ersten Begegnung in Onkel Wangs Imbiss merkte ich, dass Du ein ungewöhnlicher Mensch bist – ein Mann mit Einfallsreichtum und guten Verbindungen, dabei aber integer und voll idealistischer Leidenschaft. Und das sind keine Floskeln. Was Du für mich getan hast – vor allem, nachdem Du um meine Beziehung zu Jiang wusstest –, zeigt mir, wer Du wirklich bist.
Du hast mir nie Fragen gestellt. Und bei all dem, was in den letzten Tagen passiert ist, blieb mir keine Zeit, Dir mehr über mich zu erzählen. Ja, ich kenne Jiang schon lange. Wir hatten, wie Du weißt, viele gemeinsame Interessen, und unsere Beziehung hat sich entwickelt. Sicher hast Du seine Akte gelesen – Jiang ist vom Kampf für den Umweltschutz besessen und hat dadurch auch mich in Schwierigkeiten gebracht. Ich war darüber so ungehalten, dass ich Schluss machte. Das war, bevor wir beide uns trafen.
Als es dann ernst wurde für ihn – ernster, als er je gedacht hatte –, konnte ich nichts für ihn tun. Aber ich war von Anfang an überzeugt, dass er das Verbrechen, das man ihm zur Last legt, nicht begangen hat.
In den vergangenen Tagen habe ich viel über ihn nachgedacht. Vielleicht habe ich mich ja getäuscht. Er muss sich der Risiken bewusst gewesen sein, aber nachdem der Entschluss erst einmal gefasst war, setzte er sich rückhaltlos für die Sache ein, an die er glaubte. An diese Sache glaube auch ich. Wenn ich ihn jetzt im Stich ließe, würde ich keinen Seelenfrieden finden.
Außerdem ist er keine so starke Persönlichkeit wie Du. Er braucht mich jetzt – mehr als je zuvor.
Nun verstehst Du vielleicht, warum meine Entscheidung so ausfallen muss. Glaub mir, sie ist mir nicht leichtgefallen. Und ich bitte Dich, sie mir nicht noch schwerer zu machen.
Ich weiß immer noch nicht, was Dein eigentlicher Beruf ist. Nein, ich beklage mich nicht. Du wirst schon Deine Gründe haben. Aber ganz im Gegensatz zu dem Lehrer und Bücherwurm, der zu sein Du vorgibst, wirst Du es weit bringen in unserer Gesellschaft. Ein langer Weg durch die Instanzen liegt vor Dir, da bin ich mir sicher.
Mich dagegen hat man für das, was ich getan habe, auf die schwarze Liste gesetzt.
Du glaubst, mir in meiner Notlage helfen zu können, und vielleicht gelänge das diesmal auch. Aber wenn wir zusammen wären, würde ich Dich in endlose Schwierigkeiten stürzen; das würde ich mir nie verzeihen. Du bist, wie Du selbst sagst, »in einer Position«, in der Du etwas bewirken kannst für unsere heutige Gesellschaft. Das hast Du ja in meinem Betrieb bewiesen. Du brauchst mich nicht für Deine Karriere, allenfalls als zeitweilige Gesellschaft während eines Ferienaufenthalts, für einen kurzen Moment.
Von diesem Moment werde ich noch lange zehren. Vielleicht werde ich eines Tages mit Stolz sagen, dass ich Dir einmal nahe gewesen bin, dass ich die Deinige war. Und doch sagt mir eine innere Stimme: Nein, ich bin nicht für Dich bestimmt.
Und da ist noch etwas. Es mag zwar absurd klingen, aber es ist mir wichtig, und deshalb möchte ich es Dir sagen. Selbst in unseren intimsten Momenten hatte ich den Eindruck, dass Du an Deine Arbeit dachtest, an etwas, woran Dir sehr viel liegt, von dem ich aber nichts weiß.
Am Morgen las ich dann die Zeilen, die Du im Dunkeln neben mir geschrieben hattest. Es wird ein großartiges Gedicht. Du musst es unbedingt vollenden – für mich. Wie Du siehst, bin ich schon jetzt stolz darauf, die
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