Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
gehörte nur den beiden.
Der Oberinspektor war hier Zaungast; es wäre undenkbar, sich jetzt zu zeigen.
Ja, er fragte sich, ob er überhaupt das Recht hatte, diesem Augenblick beizuwohnen. Es war Jiang, zusammen mit Shanshan – und nicht Chen –, der für den Umweltschutz kämpfte, litt und große persönliche Opfer brachte. Chen dagegen hatte nur eine Situation ausgenutzt – wenn auch unwissentlich –, in der sie allein, verletzlich und schutzlos gewesen war.
Aber sie würde diesen Kampf, ganz gleich wie hart und schwierig er sich gestaltete, niemals aufgeben, und Jiang war ihr darin der ideale Gefährte. Sie hatten gemeinsame Interessen und eine gemeinsame Sprache. Jetzt, wo sie Jiang verziehen hatte und ihm in seiner Notlage beistand, was blieb da noch für Chen?
Fragen, die sich wie die Gassen der Altstadt verzweigten, ihn aber immer wieder auf den einen zentralen Punkt hinführten: Würde sie Jiang jemals vergessen können?
Nur angenommen, der Oberinspektor könnte sie tatsächlich für sich gewinnen, dann würde sie sich seinetwegen ändern müssen. Ein aufsteigender Stern am politischen Firmament konnte sich keine Frau aus dem Dissidentenmilieu leisten. Egal wie »erfolgreich« er innerhalb des herrschenden Einparteiensystems sein würde, es wäre nicht fair, sie in die Rolle einer guten Ehefrau zu zwingen und an der Fortführung ihres Kampfes zu hindern.
Natürlich gäbe es auch die Möglichkeit, dass sich der Oberinspektor änderte, dass er Position und Karriere ihretwegen opferte. Aber könnte er ihr dann ein guter Partner sein? Zu Beginn seiner Ferien hatte er ein paar Strophen hingeworfen, in denen es um die eigene Identität in der Interpretation anderer ging. Doch seine Existenz als Polizist lebte er nicht nur in den Augen seiner Mitmenschen. Für Polizeimeister Huang und andere war er, trotz seiner Absonderlichkeiten, ein fähiger Ermittler, der viel bewegen konnte: Wie etwa im vorliegenden Fall, auch wenn er selbst der Meinung war, längst nicht genug bewegt zu haben.
In einem Punkt ihres Briefes hatte sie zweifellos recht. Oberinspektor Chen war in einer Position, in der er etwas für das heutige China tun konnte, wenn auch nicht mit ihr an seiner Seite oder auf einem Gebiet, wo er sich nicht auskannte.
An der Straßenecke sah er Huang jetzt den Kopf für einen Moment aus der Tür des Ladens strecken.
»Komme sofort!«, rief er dem Fahrer zu, bevor er wieder verschwand; offenbar brachte er es nicht übers Herz, die beiden Liebenden schon wieder zu trennen.
Chen hatte das Treffen eigentlich bis zum Ende mitverfolgen wollen, doch dann entschied er sich anders.
Was konnte er Shanshan jetzt noch sagen?
Was erwartete er von ihr?
Er wusste es nicht. Und er hatte im Moment nicht die Kraft, sich das alles zu überlegen.
Das war dann also das Ende seiner Ferien in Wuxi, die so abrupt aufhörten, wie sie begonnen hatten.
Vergessend, dass ich fern der Heimat,
wie im Traum, mich hinreißen ließ
im Augenblick der Lust.
Er versuchte, innerlich mit diesem Aufenthalt abzuschließen, indem er sich an Gedichtzeilen klammerte, die er vor langer Zeit gelesen hatte. Diese klassischen Verse setzte er dem Schmutz von heute wie einen Damm entgegen und ließ den Vorhang über die verwirrenden Kämpfe und Fluchten der vergangenen Tage fallen.
Doch durchdacht rückt Akt um Akt nun näher / Nichts, das sich dem End entgegenstellt. Andere Zeilen, die wie ein fernes Echo herüberklangen. Vielleicht enthielten sie das Stichwort für einen anderen Akt, der sich um ihn herum abspielte.
Dann erinnerte er sich. Sie stammten von einem russischen Dichter. Es ging um Hamlet, wie er allein auf der Bühne stand und darum bat, aus dem Stück entlassen zu werden: Leben ist kein Gang durch freies Feld.
Für die anderen würde das Drama weitergehen, mit all seinen bekannten und unbekannten Stichwörtern.
Fu und Mi würden für das bestraft werden, was sie getan hatten.
Frau Liu würde weiterhin Mah-Jongg spielen, und Wenliang konnte, dank dem vom Vater hinterlassenen Geld, Pekingoper studieren.
Aber was war mit dem Hintergrund, mit dem verschmutzten, verseuchten Hintergrund?
Wer auch immer nun Lius Nachfolge antrat, würde genauso weiterwirtschaften wie sein Vorgänger. Er würde den Betrieb wettbewerbsfähig und profitabel und die eigene Position sicher und ertragreich halten – alles auf Kosten der Umwelt. Und mit diesen Zielen stand die Wuxi Chemiefabrik Nr. 1 nicht allein. Es gab noch viele andere
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