Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
zwar nicht, dass er eigens auf sie gewartet hatte, aber es war schon ungewöhnlich, dass jemand aus dem Kader-Erholungsheim ein zweites Mal ein so schmuddeliges kleines Lokal aufsuchte und dort mehrere Stunden mit Lektüre verbrachte.
Als Tourist konnte man sich allerdings schon einsam fühlen, ganz gleich, welch phantastische Möglichkeiten dieses Sanatorium bot. Sie hatte es zwar nie betreten, aber schon viel über dessen luxuriöse Angebote gehört.
»Als ich noch ein Kind war, haben meine Eltern mich einmal mit nach Wuxi genommen«, erzählte er, »aber das ist Jahre her. Ich kann mich nur noch an die Suppenklößchen erinnern, die meine Mutter extra mit nach Hause nahm. Die ganze Zugfahrt zurück nach Shanghai mussten wir stehen, und sie hielt ständig den kleinen Bambuskorb in der Hand. Wenn es mir gelingt, das Restaurant von damals wiederzufinden, bringe ich ihr ein Körbchen voll mit. Wer sagt, dass die Pracht / eines Grashalms genügt / um die großzügige Wärme / der stets wiederkehrenden Frühlingssonne / zurückzurufen ?«
»Die Stadt hat sich allerdings sehr verändert.« Sie fand es rührend, wie er über seine Mutter sprach. Und was war mit ihren eigenen Eltern? Die würden sich unendliche Sorgen machen, wenn sie wüssten, was in der Fabrik vor sich ging. »Ich hoffe, Sie finden das Restaurant; es gibt viele Lokale und Spezialitätenläden, die solche Suppenklößchen anbieten. Vor allem in der Gegend um den Bahnhof. Ich selbst wohne erst seit drei, vier Jahren hier und kenne mich nicht so gut aus. Man hat mir nach meinem Abschluss an der Universität Nanjing diesen Arbeitsplatz zugewiesen.«
»Dann haben Sie also Umwelttechnologie studiert?«
»Ja.«
»Sie können von Glück reden, dass Sie eine Stelle in Ihrem Fachgebiet gefunden haben.«
»Und Sie? Ihr Hauptfach war Englisch, nehme ich an?«
»Richtig, aber eigentlich wollte ich immer übersetzen und schreiben.«
Shanshan glaubte, eine Veränderung in seiner Stimme wahrzunehmen. Inzwischen waren sie in eine der ruhigeren Straßen Richtung See eingebogen.
»Aber Sie haben doch an etwas geschrieben, als ich ins Lokal kam«, hakte sie nach.
»Ach, nur ein paar beiläufige Gedanken dazu, wie sehr unsere eigene Identität von der Sichtweise anderer bestimmt wird.«
»Das ist mir zu abstrakt. Können Sie ein Beispiel geben?«
»Nehmen wir Onkel Wang. Für ihn bin ich vermutlich nichts weiter als ein Feinschmecker, der sich nur für eine große Platte mit weißem Fisch interessiert. In der traditionellen chinesischen Literatur findet man immer wieder die Figur des reisenden Literaten, der in örtlichen Delikatessen schwelgt, etwa bei Yuan Mei, Lu Xun oder Yu Pingbo …«
»Aber das sind Sie doch auch«, warf sie ein. »Ihrer Meinung nach leben wir also nur in der Interpretation anderer?«
»Sie haben es auf den Punkt gebracht.«
Unter anderen Umständen hätte sie die Unterhaltung mit ihm als anregend empfunden, doch sie war zu aufgewühlt von den Vorfällen in der Fabrik. Rasch warf sie einen Seitenblick auf ihren Gesprächspartner. Er war Mitte dreißig, groß und sah auf asketische Weise gut aus. Zu einem beigefarbenen Jackett trug er ein weißes Hemd und Khaki-Hosen, nichts Besonderes, und doch signalisierte seine Garderobe unprätentiösen Wohlstand. Ein Bücherwurm, der immer das passende Zitat auf den Lippen hatte, aber zugleich über gute Beziehungen verfügen musste. Sonst hätte man ihn nicht im Kader-Erholungsheim untergebracht. Einer dieser neureichen Senkrechtstarter war er jedoch nicht; der wäre sicher kein zweites Mal bei Onkel Wang erschienen.
»Ach, übrigens, haben Sie noch weitere Anrufe wie den gestrigen erhalten?«, fragte er unvermittelt. Sein Gesicht drückte echte Besorgnis aus.
»Nein, heute noch nicht«, erwiderte sie, und es kam ihr plötzlich selbst merkwürdig vor. Sie erhielt diese boshaften Drohungen nun seit zwei Wochen, und zwar jeden Tag um dieselbe Zeit.
Konnten sie mit dem Tod ihres Chefs Liu Deming in Verbindung stehen? Der Gedanke verwirrte sie.
Die Polizei hatte sie am Morgen verhört. Dabei war es vor allem um die Auseinandersetzungen gegangen, die sie in letzter Zeit mit Liu gehabt hatte.
Ihre Arbeit als Umweltingenieurin hatte Liu nicht gepasst. Er hatte ihr alle möglichen Steine in den Weg gelegt. Aber natürlich wäre sie nie auf die Idee gekommen, ihn umzubringen.
Anhaltendes scharfes Hundegebell riss sie kurz aus ihren Gedanken. Aber es war weit und breit kein Hund zu sehen.
Bis jetzt
Weitere Kostenlose Bücher