Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
damalige Bürgermeister als Minister nach Peking berufen, weil er die Umsätze der Stadt drei Jahre in Folge steigern konnte. So etwas merken sich die nachrückenden Beamten. Ganz zu schweigen von den ›roten Umschlägen‹, die sie von den Industriellen bekommen.«
»Aber es muss doch öffentliche Stellen geben, die sich darum kümmern.«
»Natürlich gibt es die. Da ist zum einen die Umweltschutzbehörde, aber die ist nur ein Feigenblatt. Manche Fabriken verfügen über Anlagen zur Reinigung ihrer Abwässer, aber sie benützen sie nicht. Die anfallenden Kosten würden den Gewinn schmälern. Diese Anlagen existieren nur zum Schein, während weiterhin ungeklärte Abwässer in den See geleitet werden. Trotz der unübersehbaren Anzeichen einer drohenden Umweltkatastrophe. In unregelmäßigen Abständen, wenn entsprechende Aufforderungen aus Peking kommen, kontrolliert die Umweltschutzbehörde die eingeleiteten Abwässer, aber nicht ohne zuvor die entsprechenden Fabriken zu informieren. Dann wird eben mal kurz die Kläranlage angeworfen, und die entnommenen Proben entsprechen hundertprozentig den von der Regierung vorgegebenen Standards.«
Inzwischen hatten sie eine halbmondförmige alte Steinbrücke erreicht, die etwas baufällig wirkte. Das Ufer war an dieser Stelle von Weiden verhangen.
»Ich bin kein Fachmann«, bemerkte Chen, »und ich habe solche Algen auch in anderen Seen gesehen. Zum Beispiel in dem Teich am Shanghaier Stadtgott-Tempel. Aber einen so schlimmen Befall wie hier habe ich noch nicht erlebt.«
»Ich will Ihnen etwas sagen. Der Gehalt an Schadstoffen in diesem See beträgt das Doppelte des nationalen Richtwerts. Nicht einmal das Gesundheitsamt von Wuxi kann diese Zahl leugnen«, erklärte sie erregt und nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. »Natürlich gibt es dafür mehrere Gründe. Zur industriellen Verschmutzung kommt die Tatsache, dass das Abwassersystem längst nicht mehr mit der rapiden sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung im Jangtse-Delta Schritt halten kann. In den frühen neunziger Jahren betrug die jährliche Menge an industriellem Abwasser, das in den See eingeleitet wurde, geschätzte fünfhundertvierzig Millionen Tonnen, dazu Abwässer aus Haushalten in der Größenordnung von dreihundertzwanzig Millionen Tonnen. Heute liegt das Gesamtvolumen bei 5,3 Milliarden Tonnen. Lediglich dreißig Prozent der Haushaltsabwässer gehen durch eine Kläranlage, bevor sie den See erreichen.«
»Puh. Wie können Sie all diese Zahlen im Kopf behalten?«, fragte Chen. Dann fügte er entschuldigend hinzu: »Stört es Sie, wenn ich rauche? Diese Informationen muss ich erst einmal verdauen. Das ist ein ernstes Problem für unser Land.«
»Nur zu.« Sie bemerkte, dass er ein Päckchen China aus der Tasche zog, eine der teuersten Marken. Sie hatte kürzlich eine Stange für ihren Vater besorgen wollen und kannte die Preise. Dann wurde ihr klar, dass ihr Vortrag geklungen haben musste, als zitierte sie einen Untersuchungsbericht. »Tut mir leid, ich wollte Ihnen keine Vorlesung halten, schließlich verbringen Sie hier Ihre Ferien.«
Vermutlich hatte sie sich zum Dozieren hinreißen lassen, weil dieses Thema sie leidenschaftlich beschäftigte und ihrer Arbeit einen Sinn gab, aber auch, weil sie in der Fabrik damit kein Gehör fand. Dort galt sie als eine Art Spielverderberin, der man am liebsten auch den Mord in die Schuhe schieben würde.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Im Gegenteil, ich bin Ihnen sehr dankbar für dieses Gespräch – oder die Vorlesung, wie Sie es nennen. Aus offiziellen Quellen hätte ich das nie erfahren. Und es schockiert mich sehr.«
Sie bemerkte den Ausdruck echter Bestürzung in seinem Gesicht. Ein Bücherwurm also, der die Realität keineswegs ausblendete. Einen so aufmerksamen Zuhörer hatte sie noch nie gehabt. Außerdem musste sie sich bei ihm keine Sorgen machen; er war ein Tourist, der in einer Woche wieder abreisen würde, das Gespräch würde folgenlos bleiben.
»Ihre Arbeit ist von großer Bedeutung, Shanshan«, sagte er ernsthaft.
»In der Fabrik bin ich ein Niemand. Keinen kümmert, was ich sage. Die sehen in mir nur eine Unruhestifterin.«
»Wegen Ihrer Arbeit für den Umweltschutz?«
»Ja, es war naiv von mir, diesen Job ernst zu nehmen. Ich wurde lediglich als Alibi angestellt, eine Tatsache, die ich bald erkannt habe. Meine Untersuchungsergebnisse werden ausschließlich im hausinternen Newsletter publiziert, der nur leitenden Angestellten
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