Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
hatte zwar niemand einen Verdacht gegen sie geäußert, aber man wusste nie, wie sich die Dinge entwickeln würden. Sie stand unter enormem Druck. Nicht nur die Polizei hatte sie im Visier, sondern auch ihre Mitarbeiter, die hinter ihrem Rücken über sie flüsterten und sie als Hauptverdächtige hinstellten.
Dass dieser Lehrer sie auf dem Weg zur Fähre begleiten wollte, war ihr daher ganz gelegen gekommen. Er lenkte sie, zumindest zeitweilig, von diesen bedrohlichen Gedanken ab. Sie empfand seine Gesellschaft als durchaus angenehm.
Allerdings wechselte er jetzt erneut das Thema: »In Ihrer Fabrik ist heute etwas passiert?«
Eigentlich wollte sie nicht darüber sprechen, antwortete aber trotzdem.
»Liu Deming, der leitende Manager der Chemiefabrik, wurde vergangene Nacht ermordet.«
»Wie schrecklich. Hat man den Täter gefasst?«
»Nein, bislang gibt es weder Verdächtige noch Hinweise. Er wurde zu Hause umgebracht, besser gesagt in seinem Privatbüro unweit der Fabrik.«
»Hatte er denn Feinde, oder gab es Menschen, die ihn hassten?«
»Sie reden wie ein Polizist, Herr Chen.«
»Entschuldigung, ich bin nur einfach neugierig«, erwiderte er. »Aber Sie haben recht. Lassen wir dieses unerfreuliche Thema.«
Hinter einer Biegung kam der See in Sicht. Chen deutete auf einen flach im Wasser liegenden Sampan und rief mit der naiven Begeisterung eines Touristen: »Da, sehen Sie.«
Das Boot war mit einem zerschlissenen Tau an einem Baum am Rand der Wasserfläche festgemacht, die wie ein Spiegel dalag. Im Näherkommen sahen sie das silbrige Glitzern einer Bewegung unter der Oberfläche. Chen bückte sich nach einem Stein und warf ihn ins Wasser.
»Wie friedlich es hier ist«, sagte er. »Eine solche Stille kann man sich in Shanghai gar nicht mehr vorstellen.«
»Die Fähre legt weiter südlich an. Ich habe absichtlich eine wenig belebte Route gewählt.«
»Sehr gut.« Dann fragte er: »Wollten Sie mir nicht etwas über die Wasserqualität erzählen?«
»Überzeugen Sie sich doch selbst. Sehen Sie das grüne Zeug da auf dem Wasser, Herr Chen?«
»Grünalgen, vermute ich. Nennen Sie mich doch einfach Chen, Shanshan.«
»Riechen Sie was?«
Er ging in die Hocke und schnüffelte mit gerunzelter Stirn.
»Das ist ja furchtbar«, bemerkte er kopfschüttelnd. »Der See war doch immer für sein klares Wasser bekannt. Als ich klein war, hat mir mein Vater erklärt, dass Tee, der mit Wasser aus dem Taihu aufgebrüht wird, ein besonderes Aroma entfaltet.«
»Würden Sie das heute noch probieren wollen?«
»Auf keinen Fall. Jetzt verstehe ich, warum Sie immer eine Wasserflasche mit sich herumtragen. Wie konnte es zu dieser starken Verschmutzung kommen?«
»Das Algenwachstum, das diesem und anderen Süßwasserseen so zusetzt, wird vor allem durch hohe Nitratkonzentrationen verursacht. Nitrate und Phosphate sind die Nahrungsgrundlage der Algen. Und die industrielle Verschmutzung unserer Gewässer ist in den letzten Jahren immer mehr außer Kontrolle geraten. Das Resultat können Sie hier besichtigen.«
»Diese Stoffe finden sich vor allem in Waschpulver und Düngemitteln, nicht wahr?«
»Genau, aber auch in vielen weiteren chemischen Abfallprodukten«, erklärte sie und deutete auf große Gebäudekomplexe, die sich weiter oben am Ufer entlangzogen. »Hier haben Sie die Verursacher: Papierfabriken, Färbereien, Chemiefirmen und dergleichen. In den letzten zwanzig Jahren sind solche Industrieanlagen aus dem Boden geschossen wie Bambus nach dem Regen. Mittlerweile erwirtschaften sie vierzig Prozent vom Gesamtumsatz der Stadt. Eine Umsiedelung steht daher außer Frage. Wo zu viele Hände zupacken, greift kein Gesetz mehr, sagt der Volksmund. Die hiesigen Beamten haben natürlich nicht vor, etwas an dieser Situation zu ändern.«
»Das müssen Sie mir genauer erklären, Shanshan.«
»Die Stadtregierung will vor allem vor den Pekinger Behörden gut dastehen – besonders im Hinblick auf das Bruttosozialprodukt. Die jetzige Stadtregierung hat sich ein zehnprozentiges Wirtschaftswachstum auf die Fahnen geschrieben, und es kümmert sie herzlich wenig, auf wessen Kosten dieser Zuwachs geht. Im Gegenteil, Umweltschutzmaßnahmen, die dem im Wege stehen, werden boykottiert. Den Oberen geht es ausschließlich um den eigenen Aufstieg im Fahrwasser solcher ›wirtschaftlichen Erfolge‹. Wie es hier in zehn Jahren aussehen wird, ist ihnen völlig egal. Bis dahin haben sie Wuxi längst hinter sich gelassen. Letztes Jahr wurde der
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