Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
der Firma zugänglich ist. Allerdings bezweifle ich, dass sie den jemals lesen oder etwas unternehmen würden, wenn sie es denn täten. Immer wieder habe ich mich verpflichtet gefühlt, gegen Lius Firmenpolitik Stellung zu beziehen; etwa wenn die Kläranlage wieder einmal abgestellt wurde oder man gefälschte Berichte an die Behörden weitergegeben hat. Aber was hat es genützt?« Sie lächelte bitter. »Ich weiß auch nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle.«
»Es gibt da eine Passage bei Konfuzius, wo es heißt: ›Manche Menschen lernen sich nie richtig kennen, auch wenn sie miteinander weiße Haare bekommen, andere sind wahre Freunde im Moment ihrer ersten Begegnung, kaum dass sie den Hut voreinander ziehen.‹«
»Ja, ich kenne die Stelle.«
»Glauben Sie, Shanshan, dass die Drohanrufe etwas mit Ihrer Arbeit zu tun haben?«
»Schon möglich. Aber jemand wie Liu würde sich wohl kaum die Mühe gemacht haben. Er hätte mich ja einfach feuern können.«
Ganz in ihrer Nähe begann eine Sirene zu schrillen. Er blickte sich um. Die Straße, in der sie sich befanden, war von Imbissständen und Andenkenläden gesäumt. Von hier aus konnte es nicht mehr weit bis zur Anlegestelle sein.
»Warten Sie einen Augenblick«, sagte er und ging zu einem der Stände.
Sie beobachtete, wie er mit dem Besitzer einer Imbissbude mit rot-weiß gestreifter Markise verhandelte, dann auf etwas deutete und schließlich mit einer großen braunen Papiertüte zurückkam.
»Hier sind ein paar Scheiben Roastbeef. Von Dampfbrötchen und Wasser allein werden Sie nicht satt, Shanshan.«
»Vielen Dank, Herr Chen. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«
»Ich muss doch mein Versprechen gegenüber Onkel Wang halten. Sie können die Brötchen ja mit den Rindfleischscheiben belegen. So macht man das im Nordwesten. Die Sauce dazu liegt auch in der Tüte.«
»Hier spricht der Kenner. Ach, und es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen den Appetit auf den Fisch bei Onkel Wang verdorben habe.«
»Sie wollten ja nur mein Bestes, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Hier ist meine Handynummer.« Er schrieb sie auf einen Fetzen Papier, den er von der Tüte abgerissen hatte. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Ihnen einen Tag lang zu lauschen ist nützlicher als zehn Jahre Lektüre. Ich hoffe, ich werde erneut Gelegenheit dazu haben.«
»In dem Sprichwort heißt es aber ›eine Nacht lang‹«, verbesserte sie ihn schmunzelnd und amüsierte sich insgeheim über seine altertümliche Ausdrucksweise. »Auf Wiedersehen.«
Während sie leichtfüßig über die Planken des Anlegers ging, stellte sie fest, dass sich ihre Stimmung deutlich gebessert hatte. Sie drehte sich um und schenkte Chen, der noch immer am Ufer stand, ein strahlendes Lächeln.
4
LANGSAM VERLOR SICH die Fähre in dunstiger Ferne.
Chen wollte sich eben pfeifend auf den Rückweg machen, als das Mobiltelefon in seiner Tasche einmal klingelte.
Es war eine SMS: »Jetzt haben Sie auch meine Nummer, Shanshan.«
Sehr gut, dachte er lächelnd. Diese Art der Kommunikation war für jemanden ihres Alters ganz normal. Ihn selbst hatte es Tage gekostet, bis er in der Lage war, chinesische Textbotschaften zu verschicken. Und dieser mühsamen Übung hatte er sich nur unterzogen, weil derartige Fertigkeiten heutzutage im Polizeidienst erwartet wurden.
Er blickte der Fähre nach und wurde plötzlich von einer bösen Vorahnung ergriffen. Da entdeckte er einen Mann, der zu ihm herübersah und dabei sein Handy hob, als wollte er ein Foto machen, sich aber abrupt abwandte, als er Chens Blick bemerkte. Vermutlich reiner Zufall, dennoch war ihm der Mann nicht geheuer. Er war mittleren Alters, nicht besonders groß und trug ein kurzärmliges, weites Hemd. Chen meinte ihn schon einmal gesehen zu haben, wusste aber nicht, wo.
Misstrauen war ihm in seinem Beruf zur zweiten Natur geworden, aber jetzt war er ausnahmsweise kein Polizist im Dienst, sondern ein anonymer Tourist, der seinen Urlaub in Wuxi verbrachte. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass ihn hier jemand beschattete.
Er ging weiter und warf, nachdem er einige Imbissbuden passiert hatte, erneut einen Blick über die Schulter. Der Mann war nicht mehr zu sehen.
Was er soeben von Shanshan erfahren hatte, würde in den Bericht eingehen, den er für den Genossen Parteisekretär Zhao zu schreiben hatte, denn dass diese Informationen von Bedeutung waren, daran bestand kein Zweifel. Aber das eilte nicht.
Schon bald hatte er im
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